Maigret und die Unbekannte
die Küche kam, wo sie gerade ihr Frühstück verzehrte. Die Lampe brannte noch, obwohl es draußen schon taghell war.
»Schläfst du nicht?«
»Wie du siehst.«
»Willst du frühstücken?«
»Ich hätte nichts dagegen.«
Sie fragte ihn nicht, warum er erst so spät nach Hause gekommen sei. Sie hatte bemerkt, daß sein Mantel ganz feucht war.
»Du hast dich doch wohl nicht erkältet?«
Nachdem er Kaffee getrunken hatte, ging er ans Telefon und rief das 2. Polizeirevier an.
»Ist Inspektor Lognon da?«
Die Nachtlokale hatten längst ihre Pforten geschlossen, und Lognon hätte deshalb friedlich zu Hause in seinem Bett liegen können. Aber er war noch in seinem Büro.
»Lognon? Hier Maigret. Haben Sie irgend etwas herausbekommen?«
»Nichts. Ich war in allen Nachtlokalen und habe die Taxichauffeure an den Haltestellen gefragt.« Maigret hatte das wegen der Bemerkung Dr. Pauls schon erwartet.
»Ich glaube, Sie können jetzt schlafen gehen.«
»Und Sie?«
In Lognons Sprache bedeutete das: »Sie schicken mich schlafen, damit Sie die Untersuchung ungestört selber weiterführen können und es dann heißt: Der Dummkopf Lognon hat natürlich versagt!«
Maigret dachte an die hagere, leidende Madame Lognon, die durch eine Krankheit an die Wohnung an der Place Constantin-Pecqueur gefesselt war. Wenn der Inspektor nach Hause kam, mußte er nur ihr Klagen und ihre Vorwürfe hören, daß er nicht alles so mache, wie es sich gehörte.
»Hast du auch unter dem Büfett gewischt?«
Er hatte Mitleid mit dem armen Pechvogel.
»Ich habe einen kleinen Hinweis, bin aber nicht sicher, ob der zu etwas führt.«
Lognon sagte nichts dazu.
»Wenn Sie wirklich nicht schlafen gehen wollen, hole ich Sie in ein oder zwei Stunden ab.«
»Ich bleibe im Büro.«
Maigret rief den Quai des Orfevres an und bat, ihm einen Wagen zu schicken, der vorher im Gerichtsmedizinischen Institut die Kleidungsstücke des jungen Mädchens abholen sollte.
Erst als er in der Badewanne saß, schlief er fast ein, und einen Augenblick war er nahe daran, Lognon noch einmal anzurufen, um ihm zu sagen, er solle ohne ihn zu Mademoiselle Irene in die Rue de Douai gehen.
Es regnete nicht mehr. Der Himmel war blank, und ein leichter gelber Schimmer ließ sie hoffen, daß im Laufe des Tages die Sonne herauskommen werde.
»Bist du zum Mittagessen wieder hier?«
»Wahrscheinlich. Ich weiß es noch nicht.«
»Ich dachte, du wärst mit deiner Untersuchung heute nacht fertig geworden.«
»Sie ist beendet. Es gibt schon wieder eine neue.«
Er wartete am Fenster auf das kleine Auto der Kriminalpolizei.
Der Chauffeur hupte dreimal. Maigret machte ihm ein Zeichen, daß er herunterkomme.
»Bis nachher.«
Zehn Minuten später, als das Auto durch Montmartre rollte, hatte er schon ganz vergessen, daß er die Nacht kein Auge zugetan hatte.
»Halt irgendwo, damit wir ein Glas Weißwein trinken können«, sagte er.
ZWEITES KAPITEL
Inspektor Lognon wartete am Rande des Gehsteigs in der Rue de La Rochefoucauld, und selbst von fern wirkte er wie unter der Last des Schicksals gebeugt. Er trug stets mausgraue Anzüge, die nie gebügelt wurden, dazu einen ebenfalls grauen Mantel, und sein Hut war von einem häßlichen Braun.
Nicht, weil er die ganze Nacht gewacht hatte, auch nicht, weil er einen Stirnhöhlenkatarrh zu haben schien, sah er so wächsern aus. Diesen Anblick war man an ihm gewohnt. Auch wenn er sich ausgeschlafen hatte, wirkte er grämlich.
Maigret hatte ihm am Telefon gesagt, er werde ihn abholen, hatte ihn aber nicht gebeten, ihn draußen zu erwarten. Lognon hatte sich absichtlich an den Rand des Gehsteigs gestellt, als ob er dort schon stundenlang wie angewurzelt stände. Man mischte sich nicht nur in seine Untersuchung, sondern man stahl ihm auch seine Zeit und zwang ihn, sich nach einer schlaflosen Nacht auf der Straße die Beine in den Leib zu stehen.
Als er den Wagenschlag öffnete, warf Maigret einen Blick auf die Fassade des Reviers, dessen verwaschene Fahne schlaff in der regungslosen Luft hing. In diesem Gebäude hatte er einst seine Laufbahn begonnen, nicht als Inspektor, sondern als Sekretär des Reviervorstehers.
Lognon stieg stumm ein, ohne zu fragen, wohin man fahre. Der Chauffeur, der das Fahrtziel kannte, bog nach links ein und dann in die Rue de Douai.
Es war immer ein schwieriges Unterfangen, mit Lognon zu sprechen, weil er in allem, was man sagte, stets einen Grund fand, sich zu ärgern.
»Haben Sie schon die
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