Maigret und die Unbekannte
Zeitung gelesen?«
»Ich habe nicht die Zeit dazu gehabt.«
Maigret, der sie eben gekauft hatte, zog sie aus der Tasche. Auf der ersten Seite prangte das Foto der Unbekannten, aber man sah darauf nur den Kopf mit dem geschwollenen Auge und Mund. Trotzdem mußte man sie danach erkennen können.
»Ich hoffe, verschiedene Leute rufen jetzt schon am Quai an«, fuhr der Kommissar fort.
Lognon dachte: Mit anderen Worten, ich bin die ganze Nacht umsonst von einem Nachtlokal zum andern und von einem Taxichauffeur zum andern gegangen. Und dabei genügt’s, das Foto in der Zeitung zu veröffentlichen und auf die Telefonanrufe zu warten!
Er lächelte nicht, sondern sein Gesicht zeigte einen düsteren und ergebenen Ausdruck, als ob er sich dazu entschlossen hätte, für eine grausame und nichts von Organisation verstehende Menschheit ein lebendiger Vorwurf zu sein.
Er stellte auch keine Frage. Er war nur ein kleines Schräubchen im Räderwerk der Polizei, und solch einem Schräubchen sagte man die wichtigen Dinge doch nicht.
In der Rue de Douai war kein Mensch zu sehen, außer einer Concierge, die vor der Tür ihres Hauses stand. Das Auto hielt vor einem Laden mit lila Anstrich, über dem in großen Buchstaben stand: Salon Irene. In kleineren Buchstaben war darunter zu lesen: Erstklassige Maßkleidung.
In dem staubigen Schaufenster waren nur zwei Kleider ausgestellt, ein weißes mit Pailletten und ein Straßenkleid aus schwarzer Seide. Maigret stieg aus, machte Lognon ein Zeichen, ihm zu folgen, bat den Chauffeur zu warten und ergriff das in braunes Papier eingepackte Paket, das der Fahrer im Gerichtsmedizinischen Institut abgeholt hatte.
Als er die Tür öffnen wollte, merkte er, daß die Klinke abgenommen war. Es war bereits nach halb zehn. Der Kommissar preßte das Gesicht an die Scheibe, sah in einem Raum hinter dem Laden Licht und klopfte mehrmals.
Mehrere Minuten verstrichen, als ob niemand drinnen den Lärm vernähme, den er durch sein beharrliches lautes Klopfen verursachte. Lognon wartete stumm und regungslos neben ihm. Er rauchte nicht. Schon seit Jahren rauchte er nicht mehr, seit jener Zeit, da seine Frau krank geworden war und behauptete, daß sie von dem Rauch ersticke.
Endlich erschien eine Gestalt in der Tür hinter dem Laden. Es war ein ziemlich junges Mädchen in einem roten Morgenrock, den sie über der Brust zuhielt. Sie blickte die beiden an und verschwand dann wieder, sicherlich, um jemandem Bescheid zu sagen, tauchte bald darauf von neuem auf, ging durch den mit Kleidern und Mänteln vollgestopften Laden und entschloß sich endlich, die Tür zu öffnen.
»Was ist?« fragte sie, wobei sie Maigret, Lognon und das Paket mißtrauisch musterte.
»Sind Sie Mademoiselle Irene?«
»Nein.«
»Ist sie da?«
»Der Laden ist nicht geöffnet.«
»Ich möchte Mademoiselle Irene sprechen.«
»Wer sind Sie?«
»Kommissar Maigret von der Kriminalpolizei.«
Sie schien weder überrascht noch erschrocken. Aus der Nähe sah man, daß sie höchstens achtzehn Jahre alt war. Entweder war sie noch nicht ganz wach oder von Natur apathisch.
»Einen Augenblick«, sagte sie und ging in das Hinterzimmer. Man hörte sie leise mit jemandem sprechen.
Dann vernahm man Geräusche, wie wenn jemand sich aus dem Bett erhebt. Es dauerte zwei oder drei Minuten, bis Mademoiselle Irene sich mit dem Kamm durchs Haar gefahren war und ebenfalls einen Morgenrock angezogen hatte.
Sie war eine Frau in mittleren Jahren, mit leichenblassem Gesicht, großen blauen Augen und dünnem blondem Haar, das an den Wurzeln weiß schimmerte. Zunächst steckte sie nur den Kopf durch die Tür, und als sie dann endlich näher kam, hatte sie eine Tasse Kaffee in der Hand. Sie wandte sich nicht an Maigret, sondern an Lognon.
»Was willst du schon wieder von mir?«
»Nicht ich, der Kommissar möchte Sie sprechen.«
»Mademoiselle Irene?« fragte Maigret.
»Wollen Sie meinen richtigen Namen wissen? Wenn ja, ich heiße Coumar, Elisabeth Coumar. Für das Geschäft klingt Irene besser.«
Maigret, der an die Theke getreten war, schnürte sein Paket auf und nahm das blaue Kleid heraus.
»Kennen Sie dieses Kleid?«
Sie ging einen Schritt näher heran, um es deutlicher zu sehen, und erwiderte ohne Zögern:
»Natürlich.«
»Wann haben Sie’s verkauft?«
»Ich habe es nicht verkauft.«
»Aber es stammt doch aus Ihrem Salon.«
Sie forderte die beiden nicht auf, sich zu setzen, und zeigte weder Erstaunen noch Unruhe.
»Nun und?«
»Wann haben
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