Maigret zögert
gewiss, aber es gibt mehr kleine Leute als andere, auch wenn sie weniger auffallen, sich dunkel kleiden, weniger laut sprechen, dicht an den Häusern entlanggehen oder sich in der Metro drängen.
Man servierte ihm unaufgefordert einen Rumkuchen mit viel Schlagsahne, eine weitere Spezialität der Wirtin, und Maigret versäumte es nicht, in die Küche zu gehen und ihr die Hand zu drücken, ja, er musste sie sogar auf beide Wangen küssen. Das war Tradition.
»Ich hoffe, Sie lassen mit Ihrem nächsten Besuch nicht wieder so lange auf sich warten!«
Wenn der Mörder sich Zeit ließ, würde Maigret wohl oft wiederkommen.
Denn jetzt dachte er erneut an den Mörder. An den Mörder, der noch keiner war. An den potentiellen Mörder.
Gibt es in Paris nicht Tausende und Abertausende von potentiellen Mördern?
Warum verspürte dieser eine das Verlangen, Maigret vorweg zu alarmieren? Fand er es romantisch? Tat er es, um sich interessant zu machen? Um eines Tages seine Zeugenaussage zu haben? Oder wollte er gar, dass man ihn von der Tat abhielt?
Ihn wie abhalten?
Maigret ging im Sonnenschein bis zur Saint-Philippe-du-Roule hinauf, bog links ein und verweilte hin und wieder vor einem Schaufenster, wo sehr teure und oft unnütze Dinge auslagen, die sich dennoch gut verkauften.
Er kam an der Papeterie Roman vorbei und betrachtete amüsiert die gravierten Visiten- und Einladungskarten mit klangvollen Namen aus dem Adelskalender. Von hier stammte das Briefpapier, das alles ausgelöst hatte. Ohne diese anonymen Briefe würde Maigret nichts von den Parendons, den Gassins de Beaulieu, den Tanten und Onkeln, Vettern und Cousinen wissen.
Andere schlenderten wie er dahin, genossen es, in die Sonne zu blinzeln und die milde Luft zu atmen. Er hatte Lust, einfach die Schultern zu zucken, auf den erstbesten Autobus mit Plattform zu springen und zum Quai zurückzufahren.
»Die Parendons sollen mir den Buckel runterrutschen!«
Am Quai würde er vielleicht einen armen Kerl treffen, der tatsächlich gemordet hatte, weil er nicht mehr anders konnte, oder auch einen jungen Straßenmaler vom Pigalle, der von Marseille oder Bastia heraufgekommen war und einen Rivalen umgebracht hatte, um sich zu beweisen, dass er ein Mann war.
Maigret setzte sich auf eine Terrasse neben einen kleinen Ofen und trank einen Kaffee. Dann betrat er drinnen im Lokal eine Telefonzelle.
»Hier ist Maigret. Geben Sie mir bitte jemanden aus meinem Büro. Egal wen. Janvier, Lucas oder noch lieber Lapointe.«
Lapointe kam an den Apparat.
»Was Neues, mein Sohn?«
»Ein Anruf von Madame Parendon. Sie wollte Sie persönlich sprechen, und ich hatte die größte Mühe, ihr begreiflich zu machen, dass Sie, wie andere auch, zu Mittag essen müssen.«
»Was wollte sie?«
»Dass Sie sie so bald wie möglich aufsuchen.«
»Bei ihr?«
»Ja. Sie wird bis vier Uhr auf Sie warten. Danach hat sie eine wichtige Verabredung.«
»Sicher bei ihrem Friseur! Ist das alles?«
»Nein. Aber das andere ist vielleicht ein Scherz. Die Telefonistin hatte vor einer halben Stunde jemanden am Draht, sie weiß nicht, ob es ein Mann oder eine Frau war. Die Stimme klang bizarr, könnte die eines Kindes gewesen sein. Jedenfalls, die Person keuchte, war außer Atem oder erregt und sprach hastig in den Apparat: >Sagen Sie Kommissar Maigret, er soll sich beeilen.< Die Telefonistin konnte nichts mehr fragen, man hatte schon eingehängt.
Diesmal handelt es sich nicht mehr um einen Brief, und deshalb frage ich mich...«
Maigret hätte fast geantwortet: Frag dich nichts!
Er selbst fragte sich ja auch nichts. Er versuchte es nicht mit Rätselraten. Dennoch war er beunruhigt.
»Danke, mein Kleiner. Ich gehe direkt in die Avenue Marigny zurück. Wenn’s was Neues gibt, kann man mich dort erreichen.«
Die Fingerabdrücke auf den beiden Briefen hatten nichts ergeben. In den letzten Jahren waren kompromittierende Fingerabdrücke immer seltener geworden, denn im Fernsehen, in Zeitungen und in Romanen war so viel davon die Rede gewesen, dass auch die dümmsten Missetäter ihre Vorsichtsmaßnahmen ergriffen.
Er ging an der Loge vorbei, wo ihn der ehemalige Inspektor aus der Rue des Saussaies mit respektvoller Vertraulichkeit grüßte. Der Rolls fuhr, nur mit dem Chauffeur besetzt, durch die Einfahrt. Maigret stieg in den ersten Stock hinauf und klingelte.
»Guten Tag, Ferdinand.«
Gehörte er nicht schon ein bisschen zum Haus?
»Ich führe Sie zu Madame.«
Ferdinand war unterrichtet. Sie hatte
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