Maigret zögert
genauso breit und kräftig wie der Vater, und dazu noch ein ganzes Stück größer. Er ist ein sehr schöner Mann von überraschend sanftem Wesen. Die Ehe ist kinderlos. Sie gehen selten aus und laden nur wenige gute Bekannte zu sich ein.«
»Aber sie kommen nicht hierher«, seufzte Maigret, der sich ein ziemlich genaues Bild von der Familie zu machen begann.
»Monsieur Parendon besucht sie an den Abenden, an denen seine Frau zum Bridge lädt, denn das Kartenspiel ist ihm ein Greuel. Ab und zu besucht Monsieur Germain ihn in seinem Büro. Ich merke es, wenn ich morgens komme und es im Zimmer nach Zigarren riecht.«
Es war, als wechselte Maigret plötzlich den Ton. Nicht dass er drohend oder streng wirkte, aber seine Stimme hatte den scherzenden Klang, seine Augen den amüsierten Ausdruck verloren.
»Hören Sie, Mademoiselle Vague. Sie haben mir, davon bin ich überzeugt, in aller Offenheit geantwortet und sind selbst manchen meiner Fragen zuvorgekommen. Nur eine muss ich Ihnen noch stellen, und ich bitte Sie, ebenso aufrichtig zu sein. Glauben Sie, dass diese Briefe ein Scherz sind?«
Ohne zu zögern antwortete sie:
»Nein.«
»Hatten Sie schon, ehe Sie von ihnen wussten, das Gefühl, dass sich im Haus ein Drama zuspitzte?«
Diesmal nahm sie sich Zeit, zündete eine neue Zigarette an, antwortete:
»Vielleicht.«
»Wann?«
»Ich weiß es nicht. Ich überlege. Vielleicht nach den Ferien. Jedenfalls um diese Zeit.«
»Was ist Ihnen aufgefallen?«
»Nichts Bestimmtes. Es lag in der Luft. Irgendetwas Beklemmendes, würde ich sagen.«
»Wer, glauben Sie, ist in Gefahr?«
Sie errötete plötzlich und schwieg.
»Warum antworten Sie nicht?«
»Weil Sie sehr gut wissen, an wen ich denke: an Monsieur Parendon!«
Er erhob sich seufzend.
»Danke. Ich glaube, ich habe Sie für heute Morgen genug gequält. Wahrscheinlich werde ich Sie bald wieder aufsuchen.«
»Wollen Sie die anderen verhören?«
»Nicht vor dem Essen. Es ist gleich Mittag. Bis später vielleicht...«
Sie sah ihm nach, wie er, groß und schwer, mit unbeholfener Miene, das Zimmer verließ. Dann plötzlich, als die Haustür zufiel, begann sie zu weinen.
3
In der Rue de Miromesnil gab es ein kleines, schummriges Restaurant, ein Relikt aus alten Tagen, wo der Speisezettel noch auf einer Schiefertafel stand und wo man durch die Glastür die Wirtin sehen konnte, die, enorm dick und auf Beinen wie Säulen stehend, an ihrem Herd waltete.
Die Stammgäste hatten ihre eigenen Servietten, die in Fächern aufbewahrt wurden, und sie hoben die Augenbrauen, wenn ihr Platz besetzt war. Doch das passierte selten, denn Emma, die Bedienung, mochte keine neuen Gesichter. Einige altgediente Inspektoren aus der Rue des Saussaies kamen häufig in diesen versteckten Winkel, und auch Büroangestellte, wie man sie kaum noch sieht und die man sich mit Ärmelschonern hinter uralten schwarzen Schreibtischen sitzend vorstellte.
Der Wirt, der hinter seiner Theke stand, erkannte den Kommissar und kam ihn begrüßen.
»Wir haben Sie schon eine ganze Weile nicht mehr in unserem Viertel gesehen. Doch Sie haben einen phantastischen Riecher: Es gibt Schlachtplatte!«
Maigret liebte es, hin und wieder so allein an einem Tisch zu sitzen, seinen Blick über altmodisches Mobiliar, über Leute schweifen zu lassen, deren Arbeitsplatz oft in diesen Hinterhöfen liegt, in denen man unvermutet auf Büros von Konkursverwaltern, Pfandleihern, Orthopäden, Briefmarkenhändlern stößt. Er käute wieder, wie er es gern nannte. Er dachte an nichts Bestimmtes. Seine Gedanken wanderten von einer Idee zur anderen, von einem Bild zum anderen, assoziierten frühere Fälle mit dem jetzigen.
Parendon faszinierte ihn. Während er sich die saftigen und knusprigen Würstchen und die in frischem Öl gerösteten Pommes frites schmecken ließ, nahm der Gnom in seinem Geist bald rührende, bald erschreckende Gestalt an.
»Der Artikel 64, Monsieur Maigret! Vergessen Sie nicht den Artikel 64!«
War es bei ihm wirklich eine Besessenheit? Warum ließ sich dieser Advokat, den man aus aller Herren Ländern für ein gesalzenes Honorar in Seerechtsfragen konsultierte, so von dem einzigen Artikel des Gesetzbuches hypnotisieren, bei dem es ganz eindeutig um die menschliche Verantwortung ging?
Oh! Er war vorsichtig! Ließ sich nicht auf eine Definition der Unzurechnungsfähigkeit ein, beschränkte sich allein auf den Augenblick der Handlung, das heißt allein auf den Augenblick, in dem das Verbrechen begangen
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