Make new Memory oder wie ich von vorn begann (German Edition)
Jörg, Claudias älterer Bruder drängelt sich zu uns durch. Die geschubsten Mädchen motzen, aber Jörg ignoriert sie. Er ist groß, noch größer als Claudia, und trägt einen zarten Schnurrbart über der wulstigen Oberlippe. Jörg ist im letzten Jahr sitzen geblieben und seitdem in unserer Klasse. Er raucht hinter vorgehaltener Hand. Seine dunklen Augen untersuchen dabei unruhig die Umgebung. Ihm folgen Heiner, die Brillenschlange und Thomas, der immer nur Markenklamotten trägt. Ich erinnere mich, dass ich mit Heiner manchmal Comics getauscht habe. Aber richtige Kumpel waren wir nie. Heiner ist von bulliger Statur und ein unangenehmes Großmaul. Trotzdem oder gerade deshalb ist er oft das Ziel des Spottes der anderen.
Akzeptiere deine soziale Rolle, Betamännchen!
Thomas hat einen Topfschnitt und Pickel. Seine Klamotten leuchten in allen Farben des Pastellregenbogens. Ich merke, dass Heiner mit mir redet.
„ So geil! Superman und die Spinne in einem Heft! So geil!“ Er schlägt in die Luft nach seinem unsichtbaren Gegner, macht „Boing“ und tut so, als würde er getroffen taumeln. Dabei rempelt er Bettina an.
Das war volle Absicht!
Pastell-Thomas umarmt die viel größere Claudia. Stimmt, die beiden sind ein Paar. Die Schulglocke rasselt.
Die 8a schultert ihre Rucksäcke und Taschen.
Klaus fasst mich am Arm und zieht mich hinter sich her. Wie vor einer unsichtbaren Mauer bleiben wir dicht an der Bordsteinkante stehen. Der Bus biegt von der Straße in die Haltebucht. Die hintere Tür kommt genau vor uns zum Stehen. Klaus lacht. Außer Jörg stellen sich alle hinter uns an. Die Bustür öffnet sich mit einem Zischen, und wir stürmen hinein.
Ich sitze ganz hinten, auf der durchgehenden Bank an der Rückscheibe, wo die Coolen sitzen. Martin erzählt von einem Video, das er gesehen hat.
Jäger des verlorenen Schatzes
. Echt, die Nazis schmelzen? Geil!
Alter, ich bin dir um Jahre voraus
.
Lautsprecher rauschen, jemand pustet in ein Mikrofon. Wir schauen nach vorn. Es ist unsere Klassenlehrerin Frau Maler. Sie steht vorn im Gang neben dem Fahrer.
„ Guten Morgen.“
„ Guten Morgen, Frau Maler.“
Sie trägt einen dunklen Overall und Stiefeletten. Dazu diese Mireille-Mathieu-Frisur und sehr viel schwarze Schminke um die Augen.
„ Sind alle da?“, fragt sie.
„ Ja“, ruft die Klasse.
Ich würde wetten, jede Klasse antwortet so auf diese Frage. Frau Maler reicht dem Fahrer das Mikro und setzt sich. Ich mag sie. Keine langen Reden. Der Motor startet und der Bus fährt schaukelnd los. Klaus neben mir schaut aus dem Fenster. Martin redet mit Jörg. Ich nutze die Gelegenheit und setze die Kopfhörer wieder auf. John Parr endet, und
Huey Lewis and the News
springen in die Bresche.
The Power of Love
.
Wo sitzt eigentlich Bettina? Zwei Plätze weiter vorn. Ich starre aus dem Fenster und konzentriere mich darauf, nicht durchzudrehen.
Alle beobachten gespannt, wie sich die Flasche in unserer Mitte knirschend auf dem schmutzigen Gummiboden dreht und langsam an Schwung verliert. Alle außer mir. Unbemerkt starre ich meine Freunde an wie Geister. Denn das sind sie, Geister der Vergangenheit.
Der Kassettenrekorder spielt dumpf leiernd
Maria Magdalena
. Das mischt sich mit dem Geräusch des Busmotors und dem gänsegleichen Geschnatter der Klasse zu einer Geräuschkulisse, die mich nervt. Bettina summt die Melodie mit, und ihr Blick zeigt die entrückte Verlorenheit, die schon bald Scharen von Jungs um den Verstand bringen wird. Bettina – in einer Vergangenheit, die jetzt die Zukunft ist, wird sie meine erste große Liebe. Eine unschuldige, unerfüllte Liebe. Nicht vergleichbar mit der hitzigen, hormongesteuerten Geilheit, die mich während der Pubertät in ihrer Gewalt halten wird, wenn die Hände unter der Bettdecke verschwinden. Wie gut es sich immer angefühlt hat, in Bettinas Nähe zu sein. In meinen Erinnerungen hallt ihr herrliches Lachen zwischen den Schulhofmauern hinauf, steigt als Echo zum Himmel empor und vertreibt die dunkelsten Wolken. Eine Aura der Leichtigkeit, die sich in ihrem Handeln, in jedem gesprochenen Wort widerspiegelte, umgab sie wie eine unsichtbare Korona und ließ wie durch Magie alles und jeden in ihrem Glanz erstrahlen.
Davon spüre ich jetzt nichts. Sie ist einfach nur ein kleines Mädchen. Ihr gackerndes Lachen klingelt mir unangenehm in den Ohren. Schon bald wird sie sich, ein wenig vor der Zeit, in eine junge Frau verwandeln, in die Art von Mädchen, die Mütter
Weitere Kostenlose Bücher