Manhattan
Walter wach.
»Liebling?«, sagte sie. »Ich glaube, du hast einen bösen Traum gehabt.«
Obwohl er noch ganz benommen war, dachte Walter sofort, nicht ein böser, der böse Traum. Der immer gleiche böse Traum.
»Habe ich etwas gesagt?«, fragte er.
»Nein.« Sie sah verwirrt aus. Und verschlafen. Und wunderschön.
»Es ist früh«, sagte Walter. Es war 5.43 Uhr, zwei Minuten bevor der Wecker klingeln sollte. »Schlaf weiter.«
»Ist mit dir alles in Ordnung?«
»Jetzt, wo du den Schwarzen Mann verjagt hast?«, fragte er. »Mir geht's bestens.«
Sie küsste ihn weich auf die Lippen, drehte sich zur Seite und vergrub sich unter den Decken. Anne Blanchard liebte den Schlaf.
Walter hasste ihn. Das lag zum Teil daran, dass seine natürliche Energie dagegen ankämpfte. Vor allem lag es daran, dass er den Traum fürchtete. Es war natürlich nie genau der gleiche, doch seine Hauptmerkmale blieben sich auf schauerliche
Weise gleich: Es war immer Nacht, und seine Agenten – seine Agenten – klammerten sich an einen großen Felsen wie die Überlebenden eines Schiffsuntergangs. Dann kamen die Wellen. Sie schwollen vom Ozean her immer mehr an und wurden zu massiven, unaufhaltsamen Mauern aus Wasser und spülten seine Agenten nacheinander ins Meer – einen nach dem anderen. Einen, dann noch einen und wieder einen. Und er selbst? In seinem Traum lag er am Rand dieses Felsens am Meer. Er streckte die Hände aus und versuchte, seine Agenten zu erreichen, versuchte, sie heraufzuziehen, sie zu retten. Manchmal schaffte er es sogar, ihre kalten Hände zu berühren, bevor sie ihm entglitten. Einer nach dem anderen, einer nach dem anderen. Unausweichlich wie die Wellen, die sich aus dem Meer erhoben. Einer nach dem anderen, einer nach dem anderen.
Es braucht keinen Sigmund Freud, um diesen Traum zu analysieren, überlegte er, als er unter die Morgendusche taumelte, und auch noch so viele Stunden auf der Couch würden ihn nicht verschwinden lassen.
Nein, dachte Walter, als er in der Dusche stand und sich von dem fast brühheißen Wasser berieseln ließ, meine Agenten sind ohne Zweifel tot. Tot oder schlimmer noch als tot, sie leiden irgendwo in einer Zelle. Von dem »angeblichen« Maulwurf dorthin verfrachtet.
Ich bin tatsächlich Der Große Skandinavische Lude und Tödliche Anwerber, dachte er. Betonung auf »tödlich«. Ich habe sie verführt und angeworben, habe sie aber nicht beschützen können. Einer nach dem anderen ist verschwunden, bis sogar der Alte genug davon hatte.
Und wäre ich nicht der Sohn meines Vaters, dachte er, als er aus der Duschkabine in die kühle Wohnung trat, hätte man mich vielleicht selbst in irgendeine Zelle verfrachtet, um mich
anschließend zu verhören und auszuquetschen, bis der Alte zufrieden und überzeugt war, dass ich nicht selbst der Maulwurf bin.
Der Alte hatte es ihm in der realen Version ihrer Unterhaltung in Hamburg tatsächlich so gesagt. Ganz anders als in der offiziellen Legende.
»Wenn Sie nicht der Sohn von Sam Withers wären«, hatte der Alte gesagt, »würde ich Sie fast für verdächtig halten. Ihr Vater war ein guter Mann.«
»Das war er.«
»Und ein sehr guter Freund von mir«, sagte der Alte. »Ich vermisse ihn.«
»Das tue ich auch.«
»So kann das nicht weitergehen, mein junger Withers«, hatte der Alte gemurmelt. »Die Hälfte Ihrer Agenten ist verschwunden, und die andere Hälfte ist unrettbar kompromittiert. So wie Sie.«
Walter hätte sich am liebsten zur Wehr gesetzt und sich für den Verbleib in Stockholm ausgesprochen, um den Maulwurf zu finden. Er hatte jedoch keine guten Argumente dafür. Jeder konnte dieser Maulwurf sein. Walter war in Stockholm erledigt. Er konnte bestenfalls für die Gegenseite von Nutzen sein, als eine Art negativer Sicherheitstest. Ihm blieb nur noch eins: die unzuverlässigen Leute der Gegenseite anwerben, die wiederum entlarvt werden würden.
Und so musste Walter gehen, um in dem langweiligen Job, den die Firma für ihn gefunden hatte, eine Art von Leben aufzubauen. Und mit Ausnahme der Träume war es bis jetzt nicht schlecht gewesen. Er war in New York, er war verliebt, und ein Mann mit seiner Vergangenheit musste vielleicht einfach mit bösen Träumen leben.
Er rasierte sich und machte sich bereit, ins Büro zu gehen.
Bei Forbes and Forbes wurde er erst zu einer zivilisierten Zeit erwartet, nämlich um neun, aber trotzdem hatte er es sich zur Gewohnheit gemacht, schon um sieben dort zu sein.
Wenn du der Neue bist,
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