Mannerfreie Zone
wir es formuliert, um Leute davon zu überzeugen, in uns zu investieren. Wir haben schon einige Treffen hinter uns, zu denen Roseanne sich ihre neuen coolen Sommeranzüge anzieht und so lange über Zahlen und Prozente spricht, bis die Leute ganz fasziniert von der Kaufkraft unserer künftigen Leserschaft sind.
Ich sitze meist dabei und sehe einfach nur großstädtisch und jung aus (eingekleidet von Tabitha) und tue ein wenig distanziert. Tabitha meint, je weniger ich sage, umso besser – „wir wollen uns in keine Schublade stecken lassen“ (Meistens genieße ich also einfach die Klimaanlage.). Immer wieder befürchte ich, dabei ertappt zu werden, dass wir völlig ahnungslos sind und einfach nur eine große Show abziehen, aber offenbar gefällt den Leuten unsere Naivität. Sie sagen, wir würden „in ungewohnten Bahnen“ denken. Roseanne zitiert das immer wieder gerne. Und sie weigert sich, dafür Geld in das Marmeladenglas zu werfen, weil sie sagt, dass solche Aussprüche in geschäftlicher Hinsicht erlaubt sind. Wahrscheinlich befürchtet sie nur, dass ich das Geld dafür ausgeben könnte, tagsüber zu rauchen und Süßigkeiten zu essen.
Roseanne hat Mrs. Yakimoto dazu überredet, in uns zu investieren. Ihr Mann war zwar nicht sonderlich erfreut darüber, aber die beiden haben eine tolle Abmachung getroffen. Wir müssen sechs Monate lang keine Miete bezahlen. Ab sofort haben wir also eine Geschäftsbeziehung.
Das setzt einen ganz schön unter Druck.
An manchen Tagen starre ich ewig lang auf den blinkenden Cursor, schalte dann um auf unsere Website und stelle fest, dass niemand draufgeklickt hat. An anderen Tagen kann ich gar nicht aufhören, einen Artikel nach dem anderen zu schreiben, ich habe plötzlich jede Menge Ideen und stelle mir vor, wie das Cover unserer ersten Ausgabe aussehen könnte.
Als ich noch bei Prescott gearbeitet habe, habe ich einfach jeden angerufen, der mir in den Sinn kam. Jetzt bin ich entsetzt über unsere Telefonrechnung. Roseanne sagt zwar ständig, dass ich mir keine Sorgen machen soll, weil wir das absetzen können, aber wir werden ganz schön viel absetzen müssen.
Außerdem kommt es mir so vor, als ob mein Arbeitstag niemals zu Ende geht. Roseanne und Tabitha haben beide noch ihre anderen Jobs, wo sie gelegentlich für uns telefonieren oder sogar tagsüber interessierte Investoren treffen. Mein Leben aber hat sich radikal geändert. Nun, schließlich habe ich genau das gewollt. Jetzt bin ich mein eigener Chef. Wir haben uns vorgenommen, dass die erste Ausgabe im November erscheint, und das wird dann wohl der echte Härtetest sein. Wir können es kaum erwarten.
Ich habe meinen Eltern nicht gleich von meiner Kündigung erzählt. Meine Mutter ging es nach der Chemotherapie eine Zeit lang sehr schlecht, da wollte ich sie nicht auch noch mit dieser Neuigkeit belasten. Dummerweise rief allerdings mein Dad eines Tages im Büro an und entdeckte meine Lüge. Er war nicht sonderlich erfreut. Als meine Mutter sich wieder besser fühlte, hat er ihr alles gesagt, weil der Therapeut, zu dem sie gemeinsam gehen, der Ansicht ist, dass sich total ehrlich zueinander sein müssten. Meine Mutter reagierte überraschend positiv. Ich glaube, das hat viel mit diesen Treffen zu tun, zu denen sie geht. Ihr geht es jetzt immerzu um Selbstverwirklichung.
Meine Schwester findet es auch toll. Ihrer Meinung nach habe ich mich mit diesem Schritt irgendwie gegen die Gesellschaft entschieden, und sie wünscht sich einen „Diskurs“ mit mir darüber, wie wir unsere Zeitschrift „wirklich subversiv“ gestalten könnten. Sie rief mich täglich mit neuen Ideen an. Gott sei Dank haben sie und Chuck beschlossen (was heißt, dass keiner dem anderen einen Antrag gemacht hat), am 1. September – dem amerikanischen Tag der Arbeit – zu heiraten. Sie wollen im Haus meiner Eltern feiern und daraus eine Überraschungsparty machen. Stellen Sie sich das mal vor! Ich habe meine Schwester angefleht, ihren Freunden zu verbieten, Bongotrommeln mitzubringen. Zum Entsetzen meines Vaters wollen sie nicht nur nicht kirchlich heiraten, sondern auf jegliche Zeremonie verzichten. Ich kann mir nicht vorstellen, wie diese Party ablaufen soll, aber mir ist klar, dass Überraschungspartys für viele ihrer Freunde danach eine ganz neue Bedeutung haben werden. Und insgeheim glaube ich, dass meine Mom inzwischen sogar schon an den „medizinischen Zweck von Marihuana“ glaubt, was unsere Verwandtschaft sicherlich skandalös finden
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