Bloß keine halben Sachen: Deutschland - ein Rollstuhlmärchen (German Edition)
Einleitung – Beinlos im Fußgängerdschungel
Vor drei Jahren erschien mein erstes Buch Der halbe Mann . Darin habe ich von meinem Unfall und meinem Leben danach erzählt. Wie ich von einem Riesen von einer Größe von 2.04 m zu einem Sitzmann auf zwei Rädern wurde. Nachdem das Buch auf dem Markt war und ich die ersten Lesungen und Fernsehauftritte hinter mir hatte, bekam ich jede Menge Post. Es waren Briefe von Menschen, die Anteil nehmen wollten oder sich Anteilnahme von mir wünschten. Darüber hinaus jede Menge Zuschriften von Lesern und Zuschauern, die froh waren, dass endlich mal einer vom Leben als Behinderter erzählt, ohne gleich in Selbstmitleid, Trauer oder Besserwisserei zu verfallen.
Viele Leser schrieben mir, dass es für sie gut war, ein Buch von einem Menschen mit Behinderung zu lesen, der sie – die Nicht-Behinderten – in diese Parallelwelt mitnimmt. Eine Welt, die mit Tabus belegt ist, obwohl Tausende von Menschen in ihr leben. Ich erzählte davon, wie es ist, und erlaubte den Blick über den Rollstuhltellerrand, denn ich weiß, wie rollstuhlgerecht Deutschland wirklich ist und dass das große Ziel der Inklusion von kleinen Teilzielen lebt, die aus Begegnungen, Aufmerksamkeiten und Gesprächen aller Art bestehen. Denn damit transparent wird, wie ein gemeinsames Leben funktioniert, ist Austausch nötig. Vielen »gesunden« Menschen mangelt es nicht an gutem Willen, sondern an Mut. Die Kommunikation zwischen Menschen mit und ohne Handicap ist nicht so ohne weiteres barrierefrei. Einen Hinkenden, einen, der im Rollstuhl sitzt oder nur einen Arm hat, fragt man nicht, wie er das macht. Mit »das« ist das Leben gemeint, das vielfältig und vielschichtig ist. Es gehört sich
nicht, sich direkt zu erkundigen, das anzusprechen. Das gilt in vielen Köpfen als unhöflich. Und weil es unhöflich, merkwürdig und ungeübt ist, sprechen auch viele Behinderte nicht über sich und sorgen auf diese Weise dafür, dass vieles weiter unvertraut und mit Vorurteilen behaftet bleibt. So vertraute mir nach einer Lesung ein Zuhörer an, dass er nur auf einem Auge sehen könne, aber nie darüber spreche, um kein Mitleid bei seinen Kollegen zu erregen. Alle sollten denken, dass er ganz normal , also »gesund« wäre. Er wolle keinen Behindertenbonus, gestand er mir, und das schon drei Mal nicht, wenn es um die Karriereleiter geht.
Meine Erfahrung ist: Je öfter Menschen von ihren Beeinträchtigungen und Grenzen erzählen, desto geringer werden die Barrieren und desto greifbarer werden Lösungen. Sollten wir uns je begegnen, Sie und ich, dann fragen Sie mich also ruhig, was immer Sie interessiert oder bewegt. Was ich nicht sagen oder beantworten will, das behalte ich sowieso für mich, mögen Sie auch noch so freundlich und attraktiv sein.
Die Welt ist vielfältig und die Menschen, die darin leben, sind sehr verschieden. Menschen können einen begeistern oder einem auf die Nerven gehen. Welche Rolle spielt es da, ob jemandem zwei Füße, ein Auge oder ein paar Finger fehlen?
Ich bin froh, dass ich erzähle, auch ohne gefragt zu werden; das hat mein Leben sehr erleichtert und eine wirkungsvolle Art von Transparenz ermöglicht. Meine Behinderung ist für mich inzwischen etwas Natürliches. Meine Authentizität hat mir Türen geöffnet, und ich nutze diese Möglichkeiten jetzt für diejenigen, die noch keinen natürlichen Umgang mit Behinderten oder ihrer eigenen Behinderung haben. Ich betrachte es als meinen Auftrag zu berichten, und weil ich dies am besten vor dem Hintergrund meiner Erfahrungen kann, drehte sich im ersten Buch alles Geschriebene um mich.
Dass das Interesse am Leben im Behindertenbereich so rege ist, bekomme ich ganz stark bei meinen vielen Besuchen in Schulen mit. Junge Menschen erleben Behinderungen oft nur als einen Schreckmoment. Es passiert etwas, man hört davon und dann ist der Klassenkamerad oder der Lehrer auch schon weg – in der Klinik oder in der Reha. Nach einem größeren Unfall können Jahre vergehen, bis ein Mensch in sein früheres Umfeld zurückkommt. Natürlich gibt es integrative Kindergärten und Schulen. Doch die meisten Kinder und Jugendlichen, die ich traf, hatten wenig Kontakt mit Menschen, die in irgendeiner Form beeinträchtigt sind. Das gilt nicht nur für körperliche Behinderungen. Auf einem Sommerfest konnte ich die Plauderei von zwei kleinen Mädchen belauschen. Die eine sagte zur anderen: »Du siehst aber komisch aus!«, worauf die andere entgegnete: »Weil ich
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