Margos Spuren
mich herfallen, falls ich ruckartige Bewegungen machte. Vielleicht war er ein Zombie. Ich wusste natürlich, dass es keine Zombies gab, aber er sah so aus, als könnte er doch einer sein.
Während ich zwei Schritte zurückwich, trat Margo zwei vorsichtige Schritte vor. »Seine Augen sind offen«, stellte sie fest.
»Wir müssen schnell heim«, sagte ich.
»Ich dachte, wenn man stirbt, macht man die Augen zu«, sagte sie.
»MargowirmüssennachHausedenElternBescheidsagen«, sagte ich.
Sie trat einen weiteren Schritt vor. Jetzt war sie so nah, dass sie seinen Fuß berühren konnte. »Was, glaubst du, ist mit ihm passiert?«, fragte sie. »Vielleicht hat er Drogen genommen oder so was?«
Ich wollte Margo nicht mit dem Toten allein lassen, der vielleicht ein Zombie war und über sie herfallen würde, aber ich hatte auch keine Lust, noch länger hier rumzuhängen und zu erörtern, was zu seinem verfrühten Ableben geführt haben könnte. Also nahm ich all meinen Mut zusammen, trat vor und griff nach ihrer Hand. »Margowirmüssenjetztgehen!«
»Ja, okay«, sagte sie. Und dann rannten wir endlich zu unseren Rädern zurück, und ich hatte ein Flattern im Bauch, das sich wie Aufregung anfühlte, aber keine Aufregung war. Wir stiegen auf, und ich ließ Margo vorfahren, weil ich weinte und nicht wollte, dass sie es sah. An den Sohlen ihrer Turnschuhe klebte Blut. Sein Blut. Das Blut des Toten.
Und dann waren wir zu Hause, jeder bei sich. Meine Eltern riefen die Polizei, und ich hörte die Sirenen in der Ferne und fragte, ob ich den Feuerwehrautos zusehen dürfte, aber meine Mutter sagte Nein. Und dann machte ich meinen Mittagsschlaf.
Meine Mutter und mein Vater sind beide Psychotherapeuten, was bedeutet, dass ich ein verdammt ausgeglichener Junge bin. Als ich nach dem Mittagsschlaf aufwachte, führte meine Mutter ein langes Gespräch mit mir über den Kreislauf des Lebens, darüber, dass der Tod Teil des Lebens ist, aber kein Teil, über den ich mir mit neun Jahren allzu viele Gedanken machen müsse, und danach ging es mir schon besser. Ehrlich gesagt habe ich mir nicht lange den Kopf über die Sache zerbrochen. Und das soll etwas heißen, denn ansonsten zerbreche ich mir über alles den Kopf.
Es war nun mal so : Ich hatte eine Leiche gefunden. Der süße kleine neunjährige Quentin hatte mit seiner noch süßeren, noch kleineren Spielkameradin einen Toten gefunden, dem Blut aus dem Mund lief, und dann, beim Nach-Hause-Radeln, klebte das Blut an ihren süßen kleinen Turnschuhen. Es war eine dramatische Erfahrung, aber andererseits – ich kannte den Kerl überhaupt nicht. Jeden Tag starben Leute, die ich nicht kannte. Wenn ich jedes Mal, wenn etwas Schlimmes auf der Welt passiert, einen Nervenzusammenbruch hätte, dann wäre ich längst ein Fall für die Klapse.
Abends um neun lag ich im Bett, weil neun Uhr meine Bettzeit war. Meine Mutter kam zu mir und sagte, dass sie mich lieb hatte, und ich sagte : »Bis morgen«, und sie sagte : »Bis morgen.« Dann machte sie das Licht aus und zog die Tür bis auf einen Spalt zu.
Als ich mich zur Seite drehte, stand Margo Roth Spiegelman vor dem Fenster und drückte das Gesicht gegen die Scheibe. Ich stieg aus dem Bett und machte das Fenster auf. Das Fliegengitter war zwischen uns und zerlegte sie in Pixel.
»Ich habe Nachforschungen angestellt«, erklärte sie mit kindlichem Ernst. Zwar zerteilte das Fliegengitter ihr Gesicht in Kästchen, doch ich konnte erkennen, dass sie ein Notizbuch und einen Bleistift mit angekautem Radiergummi dabeihatte. Sie warf einen Blick in ihre Aufzeichnungen. »Mrs. Feldman aus der Jefferson Court Street sagt, sein Name war Robert Joyner. Sie hat mir erzählt, dass er auf der Jefferson Road gewohnt hat, in einer Wohnung über dem Supermarkt, also bin ich da hin, und da standen ein paar Polizisten rum, und einer hat mich gefragt, ob ich für die Schülerzeitung schreibe, aber ich hab gesagt, unsere Schule hat keine Schülerzeitung, und da meinte er, wenn ich keine Reporterin wäre, würde er meine Fragen beantworten. Er sagte, Robert Joyner war sechsunddreißig Jahre alt und Rechtsanwalt. Sie wollten mich nicht in seine Wohnung lassen, aber nebenan wohnt eine Frau namens Juanita Alvarez, und die hat mich reingelassen, weil ich sie gefragt habe, ob sie mir eine Tasse Zucker borgt, und dann hat sie mir erzählt, dass Robert Joyner sich erschossen hat. Ich habe gefragt, warum, und sie hat gesagt, er ist sehr traurig gewesen, weil seine
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