Marienplatz de Compostela (German Edition)
konnte er also und Deutsch noch dazu. Kurz nach Pasing beendete er das letzte Gespräch, packte hektisch ein iPad aus und stöpselte die weißen Kopfhörer an.
Bucher lehnte im Sitz und dachte an die vermisste Pilgerin Anne Blohm. Was würde er morgen bei ihren Eltern über sie erfahren können? Der ICE zischte in Richtung Augsburg und wenn man wollte, konnte man die unbändige Kraft dieses Dings im Sitz spüren.
Etwas lenkte ihn nach einer Weile ab, denn neben ihm im Sitz ruckelte, strampelte und zuckte es. Anfangs war Bucher nur das laute Schnaufen aufgefallen, dann wackelte es ab und an und schließlich war der Unbekannte, etwa auf der Höhe von Mammendorf, richtig energisch geworden. Wie wild fuhr er mit seinen Fingern über die glänzende Tabletfläche, wischte hektisch nach links, rechts, oben unten. Er seufzte, biss die Zähne aufeinander, strampelte sogar manchmal mit den Füßen und schnitt hässliche Grimassen. Bucher lehnte sich ganz zurück und schielte auf das Display. Da hüpften Figuren herum, kleine süße Monster, die weggeschossen, erschlagen, in Gruben gestürzt, oder von anderen Viechern gefressen wurden. Bucher folgte dem wahnsinnigen Treiben eine Weile.
Ein paar Sitze weiter, auf der Gangseite, saß einer, der sein Tablet mit beiden Armen von sich hielt und es wie einen Steuerknüppel oder ein Lenkrad bewegte. Soweit zu erkennen war, flog er. Äußerlich erwachsen wirkende Menschen taten dergleichen. Der neben ihm war sicher Ende dreißig. Ende dreißig!
Er selbst war vierzehn gewesen, als sein Vater in diesem Alter war und so enthemmt infantil wie seinen Sitznachbarn hätte er sich seinen Vater niemals vorstellen können und wollen. Kurz vor Augsburg zerrte der Kerl die Kopfhörer herunter und führte ein kurzes Telefonat. »Hey, Level zehn. Muss noch drei Stunden fahren, jetzt wird’s dann echt ätzend.«
Bucher stieg auf und verabschiedete sich, ohne eine Antwort zu erhalten. Langeweile war es also. Eine große Langeweile hatte einen Teil der Erwachsenenwelt erfasst. Das wäre nicht weiter schlimm gewesen, wenn sie nicht offen zur Schau getragen würde.
*
Die Eltern von Anne Blohm hatten selbstverständlich Zeit für einen Termin. Schon durch das Telefon hindurch war die Aufregung zu spüren – die unnatürlich langen Pausen, die Frau Blohm beim Sprechen entstehen ließ, gefolgt von schnell dahingeworfenen Worten und Sätzen, mit denen sie möglichst viel sagen und erklären wollte, um die Situation zu nutzen – da sich die Polizei doch endlich meldete, sich endlich kümmerte, um die Last und den Kummer, den sie mit sich schleppten.
Bucher ahnte, worin der Grund für diese den Redefluss immer wieder unterbrechenden Pausen lag: Es waren die Momente, in welchen sie realisierte, mit wem sie da sprach und – worüber. Kein böser Traum, sondern die Wirklichkeit – die Wirklichkeit ihres Lebens und nicht die eines anderen Menschen, oder die eines Films.
Ihre Stimme zitterte leicht. Ja – sie sprach mit der Polizei über das Verschwinden ihrer Tochter. Ihre Tochter war wirklich verschwunden.
Am nächsten Tag, Samstagvormittag, gleich um zehn Uhr, sollte Bucher kommen.
Die Blohms bewohnten eines dieser großen alten Häuser mit quadratischem Grundriss und stolzem Walmdach, wie es viele gab, zwischen dem Grünwaldpark und Südlicher Auffahrtsallee. Das zeigte schon Google Maps.
Lara meinte das Gebiet gehöre zum Stadtteil Nymphenburg, Bucher bestand darauf, dass es noch Neuhausen war. Schon die kurze Fahrt vom Marsplatz über Rotkreuzplatz in Richtung der Auffahrtsallee brachte einen in eine andere Welt.
Gleich hinter dem Rotkreuzkrankenhaus, auf Höhe der Waisenhausstraße, stockte der Verkehr. Bucher beugte sich in Richtung Lenkrad und betrachtete die Fassaden, die sich aus dem dunkelgrünen Blätterdach der Linden und Erlen erhoben. Da streckten sich Volutengiebel, strenge Barockformen und Türmchen einem bayerisch-blauen Himmel entgegen und machten eine solche Lust an Dekoration und Lebensfreude sichtbar, dass er einen Augenblick überlegte, ob er sich nicht doch würde vorstellen können, hier in der Stadt zu wohnen.
Es ging weiter und er konzentrierte sich wieder auf den Verkehr. Ein Taxifahrer schoss links vorbei und schnitt ihn beim Einscheren.
Bald darauf waren sie da.
Ein gepflegter wilder Garten mit Kirsch- und Apfelbäumen umfasste das Haus. Blühende Rosenbüsche, Staudenbeete mit blauem Rittersporn und gelborangenen Lilien ließen die Augen wandern.
Ein
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