Marienplatz de Compostela (German Edition)
Eltern vereinbaren, gleich morgen wenn es geht, und dann sehen wir weiter.«
Lara wendete den Blick vom Fenster ab und drehte sich Bucher zu. Sie schüttelte leicht den Kopf, so als wolle sie lästige Gedanken loswerden, und Bucher vermisste den sanften Schwung ihrer langen schwarzen Haare, die sie sich hatte abschneiden lassen. Nun leuchteten ihre funkelnden Augen noch intensiver, noch gefährlicher. »Ich komme mit dir.«
Hartmann verzog den Mund und widmete sich mürrisch einem Stoß Unterlagen, den er aus dem Büro mit hierher gebracht hatte. Er wollte sich nicht mit Vermisstenfällen abgeben müssen. Dazu war er nicht ins Landeskriminalamt gekommen. Andererseits konnte er sich nun nicht mehr auf die Berichte konzentrieren, denn seine Fantasie zeigte ihm immer wieder das Bild einer einsamen Landstraße, in der Ferne eine junge Frau, einen Rucksack auf dem Rücken und einen Stock in der Hand. Es ließ ihn nicht los und während seine Haltung vorgab, ernsthaft und konzentriert zu studieren, sinnierte er über den Vermisstenfall. Bucher schwatzte mit Lara Saiter über den Stand der Hausrenovierung, über das bevorstehende Wochenende und andere belanglose Dinge.
Hartmann richtete sich auf und schob die Akten zur Seite. »Wann war denn der letzte Kontakt und von wo aus?«
Bucher sah ihn irritiert an. »Was meinst du?«
»Die Pilgerin! Wann hatte sie den letzten Kontakt und von wo aus … wie weit war sie denn gekommen … weiß man das?«
Bucher vermied es zu grinsen und eine hämische Bemerkung fallen zu lassen, denn er spürte, wie ernst es Hartmann war. »Zuletzt hat sie sich aus Lindau am Bodensee gemeldet. Sie ist von München über den Ammersee und weiter über Schongau, Füssen und Scheidegg bis dorthin gelaufen. Wohl die klassische Route.«
»Mhm, klassische Route … wie heißt sie, die Pilgerin?«
»Anne Blohm.«
»Hat sie ein Handy dabei?«
»Ja, aber sie hat es ausgeschaltet.«
»Ist die Zellortung schon aktiviert?«
Bucher hob beschwichtigend die Hände. »Hey, hey, langsam, Alex. Wir werden erst einmal mit den Eltern reden und haben bisher noch keine Maßnahmen getroffen … Informationen sammeln. Wie gesagt, ich denke, der Fall wird schnell erledigt sein.«
Hartmann schien aufgebracht. »Pilgern. Wieso geht man eigentlich pilgern? Könnt ihr mir das vielleicht beantworten, wart ihr schon mal pilgern? Das ist doch so ein Mittelalterding, Mensch! Mittelalter, ja … blankes Mittelalter! Jetzt rennen sie plötzlich alle betend durch die Gegend, als wäre die Pest wieder im Land und könnte dadurch vertrieben werden.«
Lara Saiter zwinkerte Bucher zu. Beide verneinten Hartmanns Frage. Keiner von ihnen war jemals pilgern. Bucher meinte: »Das ist im Moment eben wieder ganz modern und dient wohl dazu, Abstand von den Dingen zu gewinnen, die einen tagein, tagaus beschäftigen – dieser ganze Alltagskram halt. Und wenn man das vergessen hat, ist der Geist für Gott frei, oder so ähnlich. Manche Menschen bringt eine solche Pilgerreise auf einen Berg der Verklärung – also geistig und …«
Hartmann unterbrach Buchers holprigen Versuch. »Berg der Verklärung? Wieso dann die Mühe bis nach Compostela zu hatschen, wenn die klassische Route über den Ammersee führt? Da hätte ich meinen Berg der Verklärung in Kloster Andechs schon erreicht gehabt. Passt doch alles: ein Berg, entfernt vom Alltag, geistreiche Getränke, die die Seele reinigen und Platz für den lieben Gott schaffen.« Er lachte fies, schnappte seine Unterlagen und ging. »Oh Mann … pilgern.«
*
Bucher nahm an diesem Abend nicht den direkten Weg nach Hause, sondern fuhr mit dem Zug nach Augsburg, um für seinen Freund Peter Manner etwas abzuholen, was er ihm an die Osterseen bringen wollte. Dort hatte er endlich seine Reha angetreten, nach langem und immer energischerem Zureden.
Die Abendzüge waren prall gefüllt. Es war heiß, muffig und eng in den Waggons. Wie hielten die Leute das nur aus, Tag für Tag in diesen Zügen nach München zu pendeln?
Einer dieser modern nomads , in klassischer Uniform – dunkler Anzug, helles Hemd –, kam mit seinem kleinen Rollenköfferchen den Gang entlang, blieb bei Buchers Sitzreihe stehen, blickte abwechselnd den freien Sitz, dann wieder Bucher an; ohne einen Ton zu sagen, kein Wort kein Gruß, kein bitte , kein danke . Bucher stand auf und ließ ihn an den Fensterplatz. Der Unbekannte schmiss sein Jackett in die Ablage und führte in der Folgte drei laute Telefonate. Reden
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