Marienplatz de Compostela (German Edition)
fortlebte. Der Mensch, um den es ging – er konnte noch am Leben sein. Eine neue Situation für Bucher, ein unbekannter Raum, in den er vorsichtig eintreten wollte. Ein wenig schämte er sich für den kurzen Gedanken, der ihn erfasste, dass es einfacher wäre, wenn Anna Blohms Tod schon feststünde. Der Kaffee tat gut.
Lara Saiter war weit entspannter, wie er ihrer Körperhaltung und dem unbefangenen Ernst entnehmen konnte, mit welchem ihre Augen den Kontakt zu Frau Blohm suchten. Sie sagte so unaufgeregt schlicht, wie es Bucher in dieser Situation nie fertiggebracht hätte: »Erzählen Sie uns doch bitte von Ihrer Tochter.«
Frau Blohm sah ihren Mann fragend an und suchte nach Worten. Es gab so viel, was sie erzählen wollte. Womit sollte sie beginnen? Sie atmete laut aus und in ihrer Stimme schwang die Angespanntheit mit. »Ja, ich weiß gar nicht, wie ich das alles sagen soll. Es ist so, dass wir unsere Tochter vermissen. Sie ist vor einem Monat zu einer Pilgerreise aufgebrochen … sie wollte nach Santiago de Compostela und hatte ein Sabbatjahr dafür genommen. Wir haben sie in München am Marienplatz verabschiedet und seit nun über zwei Wochen haben wir nichts mehr von ihr gehört …«
Während sie sprach, hatte sie mit ihrem Blick für jede ihr wesentlich erscheinende Angabe die stumme Zustimmung ihres Mannes gefordert, der mit dezentem Nicken ihre Rede begleitete.
Unerwartet wendete sie sich ganz Lara Saiter zu und sprach leise, aber mit einem Hauch von Entrüstung in ihrer Stimme: »Ich weiß, was Sie denken … Sie denken, wir sind kontrollsüchtige Eltern, die ihrer Tochter keinen Freiraum lassen, die ständig alles von ihr wissen müssen, wissen wollen … aber, so ist das nicht. Es ist anders …«
Lara Saiter stritt nichts ab, rechtfertigte sich nicht und fragte stattdessen: »Was ist anders?«
Frau Blohm erstummte an der Nüchternheit der Frage. Ihr Mann antwortete mit fester Stimme. »Wir hatten ja schon mal Kontakt mit der Polizei … für uns eher unbefriedigend. Sie müssen wissen … wir haben unseren Sohn vor nun fast zwei Jahren durch einen Unglücksfall verloren. Es ist eine schwierige Zeit gewesen und natürlich empfindet man gegenüber dem anderen Kind … also unserer Tochter gegenüber, eine größere Verantwortung … da ist dann mehr Angst, wenn Sie verstehen. Man ist nicht mehr so unbefangen. Anne wusste das und wir haben uns daher noch öfter gesehen oder miteinander telefoniert. Als sie vor einem Monat abgereist ist, war das für uns ein schlimmer Abschied und sie hat sich fast jeden Tag gemeldet. Das war aber keine Forderung von uns und wir wussten, es würde im Laufe der Zeit so sein, dass die Kontakte weniger werden würden. Das wäre ja auch für uns gut gewesen. Aber zwei Wochen gar nichts von ihr zu hören – das ist anders und sie würde das niemals tun, weil sie eben weiß, wie es uns geht. Aus diesem Grund sind wir in Sorge. Wir haben überall angerufen, in Lindau, in Bregenz in der Schweiz – Krankenhäuser, Polizei, Feuerwehr, Kirchengemeinden, bei ihrer Freundin, wo sie hätte übernachten wollen. Nirgends ist sie aufgetaucht. Es muss etwas passiert sein! Wie gesagt, wir haben auch schon mit Ihren Kollegen hier in München gesprochen, aber die meinen, es sei noch kein Grund vorhanden tätig zu werden. Wir sind da völlig anderer Auffassung …« Herr Blohm, der bisher ohne äußere Regung gesprochen hatte, konnte den folgenden Satz nicht sprechen, ohne die Arme zu heben und seine Hände zu Fäusten werden zu lassen: »Können Sie sich vorstellen, was in uns vorgeht?«
Bucher sah ihm schweigend in die Augen. Niemand, niemand konnte sich vorstellen, was in den beiden vorging. Trotz der Situation waren die beiden äußerst kontrolliert – trotz der zermürbenden Situation. Er spürte, wie die Vermisstenangelegenheit Gewicht bekam. Viel wusste er noch nicht von dieser Anne Blohm, aber das Haus, in dem er sich befand, diese Räume, dieser Garten, in welchem sie aufgewachsen war, all das sagte ihm, dass diese Frau es niemals geschehen lassen würde, ihre Eltern zwei Wochen lang im Unklaren über ihren Aufenthalt zu lassen. Er fragte: »Wo hat Ihre Tochter denn übernachtet auf der Wanderung, wissen Sie das?«
Frau Blohm hatte ihre Sprache immer noch nicht gefunden und wirkte wie versteinert. Ihr Mann erklärte: »Sie wollte nicht in Hotels oder Pensionen übernachten, sondern in richtigen Pilgerunterkünften, auf der Isomatte in Pfarrämtern und so …
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