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Mark Bredemeyer

Mark Bredemeyer

Titel: Mark Bredemeyer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Runenzeit 1- Im Feuer der Chauken (German Edition)
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verbliebenen Auge die Rauchtränen weg und lege auch diese Papyrusrolle zu den vielen anderen, die bereits eine große Holztruhe an der Wand füllen. Ich werde die Kiste im Frühjahr tief unter einer Lage Eichenbalken vergraben müssen, solange ich es noch selbst kann. Meine Knochen werden immer müder und meine Kraft geringer. Wenigstens weiß ich schon, wo ich sie vergraben will, und ich habe kurz das Bild des krummen Steins am Hang des »Hohen Berges« vor Augen.
    Langsam gehe ich zur Holztür und schreite hinaus in die glänzende Wintersonne.

Der Zauber
    Neun Tage und Nächte dauerte das Ritual bereits. Jetzt, kurz vor dem Höhepunkt, saßen die neun Zauberinnen erschöpft auf der kleinen Waldlichtung rings um ein mächtiges Feuer. Sie sammelten ihre Kräfte, murmelten leise, unverständliche Worte und wippten mit ihren Oberkörpern dabei wie in Trance vor und zurück. Sie hatten sich kreisförmig angeordnet, ausgerichtet an dünnen Ebereschenpfählen im Boden. Ein rot gefärbtes Band markierte den heiligen Bereich. Hinter jeder der Frauen war ein Büschel mit Früchten oder getrockneten Beeren befestigt, mal Vogelbeeren, mal Holunderbeeren, mal Haselnüsse – alle mit magischer Kraft und stellvertretend für die Aspekte des Lebens und des Todes.
    Für einen kurzen Moment gaben die dunklen Wolken den silbern leuchtenden Mond frei. Sein fahles Licht mischte sich mit dem flackernden Schein der Flammen und tauchte die Lichtung auf dem lang gezogenen, bewaldeten Sandrücken in einen unirdischen Glanz. Dies war die Grenze zwischen dem Marschland im Norden und den sandigen Heidelandschaften bis hin zu den ausgedehnten Mooren im Süden und trennte einst sogar Stammesgebiete. Doch der Stamm der Chauken, ein weit verstreutes und eigentlich friedfertiges Volk, hatte nach und nach die kleineren Marsch- und Geestvölker aufgesogen, bis von ihnen nichts mehr geblieben war.
    Für die Weisen der Chauken galt diese kilometerlange sandige Erhebung, die sich wie eine Schlange gegen das ansonsten flache Umland abhob, bereits seit Urzeiten als magischer Ort. Hier war man den Göttern näher als irgendwo sonst in dieser Gegend. Schon ihre Urahnen hatten hier überall ihre Häuptlinge und Stammesfürsten begraben, wovon die zahlreichen Großsteingräber ringsum heute noch stumme, aber beeindruckende Kunde taten. Die alten Weisen munkelten, der Sandrücken wäre ein liegen gebliebener Finger des Urriesen, aus dessen Körper einst die Menschenwelt geformt wurde. Sie nannten ihn »Thurisfingar« – Finger des Riesen. Ein einzelner langer Felsbrocken markierte diesen ganz besonderen Ort auf dem Thurisfingar, an dem die Zeremonie stattfand. Hier waren die Kräfte der Erdgeister außergewöhnlich stark, wurden sogar durch die jahrtausendealte bronzene Himmelsscheibe noch verstärkt. Diese lag unter dem Felsbrocken, sicher tief im Schoße der Mutter Erde eingebettet. Der Zauber, der aus einer Zeit stammte, als die Menschen noch die Sonne und die Gestirne selbst anbeteten, würde erst durch die ebenso alte Scheibe möglich werden. Uralte Kräfte waren darin gebunden und eingefangen – in der Hand eines Wissenden ein mächtiges Instrument! Zauberkundige hatten sie vor lange zurückliegenden Zeiten angefertigt, als alle Dinge gerade erst erschaffen, die Menschen aus Esche und Ulme geschnitzt worden waren und die Götter noch zwischen ihnen wandelten. Vorbeiziehende Wolken verdüsterten den Mond wieder. Der nachlassende Mondschein ließ die Schatten der Baumäste einen Moment lang wie mächtige Finger nach der kleinen Gruppe greifen. Dann verschmolzen sie mit der Dunkelheit. Die neun Zauberinnen hatten sich vorbereitet, Beschwörungen durchgeführt, Geist und Körper durch Schwitzen und Fasten gereinigt, Opfer gebracht. Die meisten von ihnen waren von den umliegenden Stämmen der Chauken, einige aber auch von weiter her gekommen: aus den Gebieten der Cherusker, der Angrivarier und der Brukterer.
    In dieser heiligen neunten Nacht würde es so weit sein – dann, wenn die Leben spendende Sonne erstmals im neuen Jahr ihre warmen Strahlen über die nördlichen Länder streichen ließ. Wissende und Kundige hatten diesen Zeitpunkt bestimmt, mit der Hilfe uralter Sternenkarten auf anderen Bronzescheiben, die seit etlichen Menschenaltern bei den Stämmen im Osten zu deren größten Schätzen gehörten. Jahr für Jahr mussten für diese Informationen viele Stück Vieh bezahlt werden, da unter anderem auch die Bauern nach dem Sonnenstand den Beginn

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