Blinde Wahrheit
1
März 2010
Ihr Name war Carly Watson.
Die letzten Stunden ihres Lebens verliefen grausam.
Sie wusste nicht, wo sie war. Sie wusste nicht, wie lange sie schon dort war. Und inzwischen hatte sie so große Schmerzen, dass sie sich auch kaum noch daran erinnern konnte, wer sie war, doch sie wünschte sich sehnlichst an einen anderen Ort.
Sie war 23 Jahre alt, Medizinstudentin, klug und fleißig und hatte ihr Leben geliebt, bevor sie in diese Hölle geraten war. Nun jedoch betete sie nur noch um ein baldiges Ende.
Seit Stunden, Tagen, wenn nicht gar Wochen hockte sie schon in dieser fürchterlichen Dunkelheit.
Und sie wusste, dass sie dort auch sterben würde.
Gerade kam er zurück – das Knarzen der Tür verriet es ihr, war wie das Geräusch des nahenden Todes für sie. Als die Tür aufgestoßen wurde, ächzte sie in den uralten Angeln.
Ein Schluchzer entwich ihrer Kehle, als er eine Hand auf ihr Bein legte und langsam aufwärts strich. Sie versuchte, sich ihm zu entwinden, konnte sich durch die Fesseln um ihre Handgelenke, um Taille, Knie und Knöchel jedoch kaum bewegen.
Als er sie mit der Hand im Schambereich berührte, gellte ihr langer, verzweifelter Schrei durch die Nacht.
Ihr Entführer, Vergewaltiger und wohl auch angehender Mörder beobachtete sie. Ihre Angst schien ihn zu amüsieren, schien ihm zu … gefallen. »Schrei nur, Schätzchen. Niemand kann dich hören.«
»Bitte … « Sie war schon ganz heiser vom Schluchzen und ihr Hals fühlte sich trocken an. Von ihrem Bitten. Von ihrem Flehen. Sie hasste sich regelrecht dafür, dass sie ihn so angebettelt und ihm dabei diese Befriedigung verschafft hatte. Doch tief in ihrem Inneren gab es immer noch etwas, das sie die Wahrheit nicht akzeptieren und noch nicht aufgeben lassen wollte.
Auch wenn sie längst schon wusste, dass es keinen Zweck haben würde. »Lassen Sie mich einfach gehen. Bitte lassen Sie mich gehen … Ich werde auch nichts verraten, ich verspreche es Ihnen!«
Er seufzte wie ein Vater, dessen Kind seine Geduld überstrapazierte, tätschelte ihr sogar die Schulter. »Ja, da bin ich mir ganz sicher.«
Ein Ratschen durchfuhr die Stille. Und Carly fing erneut an zu wimmern, als sie das Geräusch erkannte. Es war ein Reißverschluss. Er zog sich die Hose aus – nein, nein, nein …
Panik stieg in ihr auf, sie begann zu schreien.
Er vergewaltigte sie wieder.
Ihr versagte die Stimme, bevor sie abschaltete und sich innerlich zurückzog.
Dieses Mal war es eine endgültige Flucht. Sie hatte sich an einen Ort begeben, an dem sie keinen Schmerz mehr spürte, keine Angst.
Als er ihr das Leben nahm, bekam sie davon nichts mehr mit – sie war schon längst nicht mehr anwesend.
Ihr Name war Carly Watson.
Es war ein wunderschöner Tag – einer von denen, die es nicht allzu oft gab. Mit warmer, milder Luft, die Sonne schien vom blauen Himmel, eine leichte Brise wehte. Lediglich im Schatten der Bäume war es ein wenig kühler.
Ein perfekter Tag also für einen Spaziergang.
Das hatte Lena Riddle zumindest gedacht. Auf halber Strecke begann ihr Hund jedoch, unruhig zu werden. Puck konnte eigentlich nichts so leicht aus der Ruhe bringen. In den vier Jahren, die er nun schon bei ihr war, hatte er sich kein einziges Mal dermaßen aufgeführt. Und dennoch zerrte er jetzt an seiner Leine, als hätte er beschlossen, sie auf keinen Fall ihren gewohnten Weg durch den Wald gehen zu lassen.
»Komm schon, Puck. Du wolltest doch unbedingt raus, schon vergessen?«
Sie lief versuchsweise noch einen Schritt voraus, aber der groß gewachsene Golden Retriever setzte sich auf die Hinterläufe und schien nicht gewillt zu sein, sich auch nur einen Zentimeter weiterzubewegen.
Genau in diesem Augenblick, leise, ganz leise, hörte sie … ein Geräusch.
Puck fing an zu knurren. »Still«, flüsterte sie und legte ihm eine Hand auf den Kopf. Sein Nackenfell hatte sich aufgestellt, sein Körper war angespannt. »Schon gut, Dicker. Bleib ruhig.«
Sie standen nun mitten auf dem Weg. Lena hob den Kopf und horchte. Die schwache Brise, die den ganzen Tag über geweht hatte, hatte sich plötzlich gelegt. Und auch die sie umgebenden Geräusche, die vom vielfältigen Leben im Wald zeugten, waren verstummt. Ihr Herz schlug einmal, zweimal.
Es herrschte absolute Stille.
Da war es wieder. Es klang irgendwie … dumpf. Weit weg. Vielleicht war es ein Tier, das sich irgendwo verfangen hatte?
Sie konzentrierte sich, wobei sie angestrengt die Augenbrauen zusammenzog. Da,
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