Marx fuer Eilige
starrer logischer Überbau errichten ließ, verlieh ihr Schönheit. Daß sich mit ihr eine Menge sozialer Ungerechtigkeiten und eindeutiger Grausamkeit als unvermeidliche Begleiterscheinung im Rahmen des Fortschritts erklären und der Versuch, diese Dinge zu ändern, als wahrscheinlich mehr Schaden als Gutes stiftend hinstellen ließ« 42 , trug ihr Wohlwollen von vielen Seiten ein.
Das erklärt noch nicht vollends, warum moralisches Handeln auch bei den Gegnern dieser wirtschaftsliberalen Doktrin einen derartigen Hautgout hat. Die Verächtlichmachung moralischer Motive ist, wie leicht einsehbar ist, eine wichtige Waffe im Arsenal marktradikaler Doktrinäre. Aber erstaunlicherweise, und doch durchaus folgerichtig, sind sie in diesem Affekt gegen ethisches Handeln durchaus mit von Marx geprägten Traditionslinien verbunden. Die paradoxe Folge dieses Sachverhaltes ist der Umstand, daß die Gewißheit, es komme nur auf »ob jektive « Gegebenheiten, nicht aber auf die Wünsche, Hoffnungen und Illusionen der Menschen an, heute von rechts und von links gestützt wird.
Mit durchschlagendem Erfolg: Daß man die wirtschaftlichen Realitäten gefälligst zur Kenntnis zu nehmen, sich an die Fakten zu halten habe, weiß heute jedes Kind. Daß es nichts zur Sache tut, was diese oder jene Individuen sich wünschten, welche Vorstellungen und Illusionen in ihren Köpfen herumspuken, ist weitgehend Allgemeingut |60| geworden, worüber sich kaum mehr streiten läßt. Daß der Ökonomie der Primat zukomme, dem die Politik nicht zuwiderhandeln und gegen den nur ein exaltierter Kindskopf anreden könne, ist die stärkste und letzte Gewißheit unserer an Gewißheiten ansonsten recht armen Zeit. Daß unsere Welt nach ihrer eigenen Logik funktioniert, die sich Naturgesetzen gleich durchsetzt – und welche wiederum eine rein ökonomische Logik, allein wirtschaftliche Gesetzmäßigkeit ist – und der sich weder Regierungen noch Unternehmen, noch einzelne Individuen entziehen können, wagt kaum jemand zu bestreiten. Nur Sonderlinge verschwenden heute noch ihre Zeit darauf, sich über alternative Entwicklungslogiken oder gar über philosophische oder kulturhistorische Fragen den Kopf zu zerbrechen. Sie sind so hoffnungslos von gestern wie Geisterbeschwörer oder Kommunisten.
Die Apologeten des Bestehenden haben also auf aller Linie gesiegt. Und doch gilt ebenso – ja es ließe sich mit gewissem Recht sogar sagen: gerade deshalb gilt –, was der italienische Kommunist Antonio Gramsci schon aus Anlaß von Marx’ hundertstem Geburtstag, also vor knapp 85 Jahren formuliert hat: »Wer wäre nicht Marxist? Und doch ist es so: alle sind Marxisten, ein wenig, unbewußt.« 43
Wie geht das zusammen? Wir werden sehen, daß dies bei einer Lesart des Marxismus, die einzelne Aspekte der Marxschen Gedankenfülle überbetont, sogar recht gut zusammengeht. Wir haben bereits erwähnt, daß Marx seine Thesen in der Auseinandersetzung mit der Hegelschen – und nachhegelschen – Philosophie entwickelt. Als Marx sich daran machte, mit seinem »ehemaligen |61| philosophischen Gewissen« abzurechnen, war Hegel, wie wir gehört haben, gerade 15 Jahre tot. Für diesen war alles Leben wesentlich »Geist« und nicht praktisch. 44 Heute rennt man offene Türen ein mit dem Hinweis, daß für die Lebensentwürfe und -ziele, für das Bild, welches sich die Menschen von unserer Welt machen, ihre materielle Existenz und die praktischen Lebensverhältnisse, in denen sie sich befinden, entscheidend sind. Mittlerweile gälte es als ziemliche Banalität, würde man bemerken, daß Gesellschaften allgemein aufgeklärtes Bewußtsein, demokratische Institutionen, ein funktionierendes Staatswesen, ein Ensemble juristischer, sozialer und kultureller Instanzen wohl erst auszubilden vermögen, wenn ein gewisser Grad materieller Entwicklung erreicht ist, und daß die Achtung des anderen und der Respekt des Gesetzes sich höchstwahrscheinlich nur schwer durchsetzen werden, wenn die große Mehrheit der Bevölkerung in Elend und Hunger vegetiert. Damals aber, als sich noch locker über »Geist«, »Bewußtsein« oder »Wissen« philosophieren ließ, ohne allzu viele Gedanken auf den praktischen Entwicklungsstand einer Gesellschaft zu verschwenden, war das keineswegs selbstverständlich.
Der junge Gelehrte Marx hält früh schon dagegen – auch weil der junge Rebell Marx weiß, daß die Revolution, die er kommen sieht, nicht allein deshalb kommen wird, weil der Revolutionär Marx
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