Marx fuer Eilige
intellektuellen Wucht Karl Marx’ bräuchten, der das vielfach grassierende Unbehagen zu systematisieren versteht, das hatten viele schon seit Jahren gespürt. Ausgerechnet in seiner »Christmas-Special«-Ausgabe vom Dezember 2002 widmete sich der britische »Economist« – gleichsam das Zentralorgan der Freunde der kapitalistischen Produktionsweise |12| – der Frage »Marx nach dem Kommunismus« und kam zu dem erstaunlichen Schluß: »Als eine Regierungsform ist der Kommunismus tot. Aber als ein System von Ideen ist seine Zukunft gesichert.« Marx habe immer noch ungebrochenen Einfluß und der, so das unerwartete Urteil der britischen Radikalliberalen, komme ihm auch zu, trotz aller Fehler und Irrtümer, die sich in seinem Werk finden mögen. Kaum jemand habe derart vorhergesehen, wie der Kapitalismus die Welt verändern würde, und dies fordere »zumindest Respekt vor dem erstaunlichen Weitblick und der intellektuellen Ambition dieses Denkens«. 1
Bereits zur Jahrtausendwende hatte eine Umfrage der BBC, wer denn der bedeutendste Mann oder die bedeutendste Frau des Millenniums sei, ein recht überraschendes Ergebnis erbracht. In der Kategorie »größter Denker« lag Marx klar vorne – gefolgt von Einstein, Newton und Darwin. Und das US-Magazin »New Yorker« hatte schon 1997 prophezeit, Karl Marx werde bald wieder ganz en vogue sein, ihn in einer Sonderausgabe gar zum »nächsten großen Denker« erklärt, da dessen Analyse des Kapitalismus so aktuell wie konkurrenzlos sei. »Je länger ich an der Wall Street bin, desto stärker wird meine Überzeugung, daß Marx Recht hatte«, urteilte ein reicher Investmentbanker und fügte hinzu: »Ich bin absolut sicher, daß Marx die beste Sicht auf den Kapitalismus hatte.« 2
Ein Urteil, auf das sich auch der deutsche Universalgelehrte Hans Magnus Enzensberger mit dem einstigen Wirtschaftsressortleiter der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«, dem überzeugten Neoliberalen Hans D. Barbier, schnell zu einigen vermochte. Daß wir einen Marx |13| für das einundzwanzigste Jahrhundert dringend bräuchten, war unter den beiden weisen alten Herren weitgehend unumstritten. »Über den alten Marx mag man denken, was man will, aber seine Analyse, seine Prognose der Globalisierung war genial. Wie ein großer Dekonstruktionskünstler hat er auseinandergenommen, was er vorgefunden hat«, formulierte Enzensberger und fügte hinzu: »Daß es heute niemanden zu geben scheint, der uns neu zu denken gibt, sei es anhand von Horrorvisionen oder Verheißungen, ist sehr schade. Ich spüre eine intellektuelle Lücke.« 3 Mag auch allerorten Erleichterung über den Zusammenbruch eines doktrinären Marxismus herrschen, beschleicht die Klügeren unter den Marx-Kritikern doch eine Art tragisches Bewußtsein. So äußerte der britische Wirtschaftshistoriker und Keynes-Biograph Lord Robert Skidelsky, der Kollaps des Marxschen Systems »ist eine Befreiung, hinterläßt aber auch ein gewisses Verlustgefühl«. 4
Kapitalisten empfehlen anderen Kapitalisten, Marx zu lesen, große Geister wünschen sich endlich eine Gesellschaftsanalyse, die es mit dem Marxschen Format aufzunehmen vermöchte – und gutsituierte junge Leute aus besten Verhältnissen rebellieren gegen einen zunehmend entgrenzten, beschleunigten, globalisierten Kapitalismus, reisen den Herren der Welt zu ihren Gipfeltreffen nach, legen Innenstädte in Trümmer oder versammeln sich in der brasilianischen Provinz zum »Weltsozialforum«. Die Braveren rufen, »eine andere Welt ist möglich«, die Radikaleren skandieren: »Capitalism Kills«; und dies, wohlgemerkt, zehn Jahre, nachdem der Kapitalismus zur konkurrenzlosen Gesellschaftsordnung wurde, alle Mauern |14| zum Einsturz gebracht und seine letzten Grenzen überwunden hat.
Es drängt sich also auf, die verstaubten Bände des brillantesten Analytikers und schärfsten Kritikers dieses Systems wieder aus den Regalen zu holen. Zwar würden sich nur wenige heute als Marxisten bezeichnen, doch die Marxschen oder besser: die von Marx inspirierten Theorien und Denksysteme sind in gewissem Sinne frischer denn je. Entschlackt von den vielen Ungenießbarkeiten, die dem Marxismus als Herrschaftsdoktrin bis zur Unerträglichkeit beigemengt wurden, kann man sich nun weitgehend vorurteilsfrei den Marxschen Gedanken annähern. »Der Tod ist gewissermaßen der Jungbrunnen des Marxismus«, schreiben die US-Theoretiker Michael Hardt und Kathi Weeks. »Jedesmal, wenn das Ableben des Marxismus
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