Masala Highway
übereinanderliegenden Pritschen schlafen. Diese müssen zuerst ihr Lager räumen, denn solange ihre Liegen noch ausgeklappt sind, kann man im Abteil nicht sitzen. Das eilt, denn spätestens beim nächsten Zwischenstop ist Frühstückszeit: Vom Bahnsteig werden scharfe Currys, Samosas oder Dosas durch die Fenster gereicht, Teeverkäufer gehen mit ihrem nasalen Rufen durch den Gang: „Chai-ii – Chai-ii – Chai-ii garam, garam Chai-ii!“ Der Tee ist tatsächlich garam, heiß, so heiß, dass er in einem langen, bogenförmigen Strahl geschickt in den kleinen Plastikbecher gegossen wird, um ihn abzukühlen.
Verkäufer laufen nicht nur während der Zwischenhalte durch den Zug, manche fahren auch eine oder zwei Stationen mit. Es gibt nicht nur Tee – alles mögliche Essbare, geschälte Gurken, Trockenfische, scharf gewürzte Nüsse bis hin zu neonfarbenem Plastikspielzeug aus China bringen die Händler mit. Jeder der Verkäufer hat einen eigenen Erkennungsruf, klappert mit seinen Utensilien auf typische Art, schüttelt mit einer der abgepackten Tüten. Doch der am häufigsten gehörte Ruf ist der des Chaiwallas.
Ein Tee – meistens die mit Milch aufgebrühte, mit ein paar Gewürzen und viel Zucker verfeinerte Variante, aber immer häufiger auch gesüßter Teebeutelsud – kostet zwei bis vier Rupien, also deutlich weniger als zehn Cent. Nach einer Nacht im Zug ist so ein Tee mit seinem hohen Zucker- und Teeingehalt genau das Richtige und belebt ungemein. Als er noch in Paisse bezahlt wurde, der nächstkleineren, seit Jahren kaum noch verwendeten Münzeinheit, servierten die Chaiwallas den Tee in kleinen Tonschälchen – zur einmaligen Verwendung hergestellt und daher hygienisch so einwandfrei wie ökologisch sinnvoll. War der Tee ausgetrunken, landete das Schälchen im Gleisbett: Ton zu Ton, Staub zu Staub. Die Schälchen sind inzwischen verschwunden, mit den weißen Bechern, durch deren dünnes Plastik man sich regelmäßig die Finger verbrennt, wird aber genauso verfahren – was den Schotter in den Durchfahrtsbahnhöfen so aussehen lässt, als sei gerade Schnee gefallen.
Klimatisierte Waggons sind komfortabler und sauberer, die Reise in ihnen aber nicht so abwechslungsreich. Das Bordessen ist normalerweise recht gut – aber die Auswahl der fliegenden Händler ist größer. Allerdings hat man in den einfacheren Wagenklassen auch Gelegenheit, die weniger schönen Seiten Indiens kennenzulernen. Es kommen nicht nur Verkäufer vorbei. Vor Dieben kann man sich auf recht einfache Weise schützen und man kann sich der Solidarität der meisten Mitreisenden sicher sein, die schon aus eigenem Interesse ein Auge darauf haben, wer sich in der Nähe des eigenen Abteils bewegt. Zu schaffen machen mir, auch nach Jahren des Reisens, Erlebnisse anderer Art: Immer wieder kriechen Kinder, manche nicht einmal zehn Jahre alt und alle sehr dreckig, auf dem Boden vorbei und wischen mit einem feuchten Lumpen, der so schwarz ist wie der Belag, über die Flächen, während sie mit der anderen Hand um Rupien betteln. „Sir, ten rupees, sir!“ Die Finger der rechten Hand wandern dabei immer wieder zum Mund, die Augen versuchen, die des Fremden zu fixieren. Immer wieder kostet es mich Überwindung, hier nicht nachzugeben. Es ist sehr wahrscheinlich, dass eine Geldspende in so einem Fall nicht hilft. Die meisten der Bettelkinder in den Zügen und an den Bahnhöfen der großen Städte sind organisiert, in der Hand von Banden – was sie an Barem bekommen, müssen sie abliefern. Man kann versuchen, ihnen etwas Essbares zu geben. Manchmal habe ich erlebt, dass ein Bettelkind so ein Angebot unfreundlich zurückwies. Der beste Weg zu helfen, führt über die Unterstützung einer Hilfsorganisation, die sich sozial engagiert und die Probleme – Landflucht, Analphabetismus und Frauenunterdrückung sind einige von vielen – langfristig bekämpft. Doch im Alltag merke ich, dass solche rationalen Überlegungen kein allgemeingültiges Rezept liefern, wie man sich bei Begegnungen mit Armut und Unterdrückung mit gesellschaftlichem Hintergrund verhalten soll. Vorab an eine Hilfsorganisation zu spenden mag die eigenen Gewissensbisse lindern, weil man sich so vorher mit dem Problem auseinandersetzt und nicht unvorbereitet einer bittenden Kinderhand gegenübersitzt. Ein gutes Gefühl habe ich trotzdem nicht, wenn ich ein Kind mit einer Handbewegung und vielleicht einem schroffen „Nahin!“ – „Nein!“ fortschicke. So habe ich mir angewöhnt,
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