Maskenspiel
»… und als Projektassistentin hatte ich an Emily gedacht.«
Die Erwähnung meines Namens reißt mich schlagartig aus meinem Tagtraum, in dem ich gerade ein besonders kniffeliges IT-Sicherheitsproblem löse.
Charlie, einer unserer Projektleiter bei Secur-Code , sieht mich erwartungsvoll an. Wovon hat er noch mal erzählt, bevor ich abgedriftet bin? Von irgendeinem ganz wichtigen neuen Kunden, den die Firma unbedingt gewinnen will?
»Warum gerade ich?«, frage ich, um Zeit zu gewinnen.
Jetzt schauen mich auch meine Kollegen, ein gutes Dutzend Mittzwanziger in den obligatorischen Turnschuhen, Jeans und T-Shirts, an.
»Ich dachte, das wäre logisch.« Charlie tippt mit dem Laserpointer auf den Konferenztisch. »Du bist Britin, du sprichst perfekt Englisch, und du siehst gut aus.«
Meine Kollegen grinsen. Ich nicht, denn den Spruch bringt Charlie jedes Mal, wenn ihm die Argumente ausgehen. Meine hervorragenden fachlichen Fähigkeiten als IT-Sicherheitsexpertin hat er jedenfalls nicht erwähnt. Dass ich blond bin, ist sein zweiter Lieblingsspruch. Den benutzt er, wenn er jemandem klarmachen will, dass Frauen, insbesondere Blondinen, nichts von Technik verstehen.
»Komm schon, Emily, vier oder fünf Wochen London, schickes Hotel, alles auf Spesen, was hält dich noch hier?«
Ich schaue aus dem Fenster in den Berliner Nieselregen. »Das Wetter ist es jedenfalls nicht.«
Charlie grinst seltsam zufrieden. »Das ist meine Emily! Briefing in zwanzig Minuten in meinem Büro. Wir fliegen am Montagmorgen.«
Das Briefing war erschreckend kurz. Charlie scheint selbst noch nicht allzu viel über das Projekt zu wissen. Er konnte mir gerade mal sagen, dass der Auftraggeber eine Softwarefirma ist, die unsere Firma schon seit zwei Jahren als Kunden zu gewinnen versucht. Deshalb übernimmt Charlie, als einer unserer erfahrensten Projektleiter, den Auftrag auch persönlich. Vermutlich wäre meine Anwesenheit vor Ort gar nicht nötig, aber er präsentiert sich Kunden gegenüber gerne als Programmiergenie, und Genies belasten sich nun einmal ungern mit administrativen Arbeiten. Folglich vermute ich, dass es meine Aufgabe sein wird, unsere Arbeit zu dokumentieren und zu testen. Kein Wunder, dass die Wahl auf mich gefallen ist – als einzige Frau im Team landen die undankbaren Hilfsarbeiten meistens bei mir.
Jedenfalls stehe ich jetzt in Jeans, T-Shirt, Kapuzenjacke und Sneaker am Flughafen und warte auf Charlie, der sich mal wieder verspätet. Den Koffer mit meiner »Arbeitsuniform«, einem schwarzen Hosenanzug und einem halben Dutzend weißer Blusen plus diverser schwarzer Schuhe mit unterschiedlich hohen Absätzen, habe ich bereits eingecheckt. Als ich gerade überlege, ob ich schon zum Gate gehen soll, sehe ich Charlie in aller Seelenruhe auf mich zuschlendern. Im Gehen leckt er sich die Finger, an denen irgendetwas Rotes klebt. »Dann mal los zum Gate, ich reise nur mit Handgepäck. Mhmmm, Berliner Currywurst, gibt’s was Besseres?«
»Zum Frühstück?« Ich schultere mein Handgepäck, einen kleinen Rucksack, und versuche mit Charlie Schritt zu halten, der für seine kurzen Beine und füllige Form ein überraschendes Tempo vorlegt.
Knapp zwei Stunden später stehen wir am Gepäckband in London Heathrow. Das heißt, ich stehe dort, während Charlie auf und ab läuft und in sein Handy spricht. Eine halbe Stunde später – Charlie hat inzwischen einen hochroten Kopf – ist klar: Mein Koffer scheint aus irgendeinem Grund nicht mitgekommen zu sein.
»Ich warte draußen!« Sichtlich genervt verschwindet er durch die Tür in die Ankunftshalle. Wenn Charlie in schlechter Stimmung ist, macht man lieber einen großen Bogen um ihn, also nicke ich und mache mich alleine auf den Weg zum Schalter für vermisstes Gepäck. Eine weitere halbe Stunde später verlasse ich mit einem Zettel und der Aussage, dass man mich anrufen wird, sobald man meinen Koffer ausfindig gemacht hat, die Gepäckhalle.
Glücklicherweise sehe ich Charlie sofort. Er sitzt in einem Café und hat die Überreste eines Sandwichs sowie einen leeren Becher vor sich.
»Es tut mir leid, aber mein Koffer scheint verschollen zu sein«, murmele ich unglücklich.
»Deshalb reise ich nur mit Handgepäck!«, schimpft Charlie. Er scheint sich wegen dieser Sache noch immer nicht beruhigt zu haben. »Na los, schnappen wir uns ein Taxi!«
Sowohl der ungewohnte Luxus einer Taxifahrt nach London als auch das zentral gelegene Hotel beeindrucken mich: kein verstaubter
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