Max Weber: Ein Leben zwischen den Epochen (German Edition)
erscheinen «Die magnetischen Felder» von André Breton und Philippe Soupault, das erste Werk des literarischen Surrealismus. Die ersten privaten Radioprogramme gehen auf Sendung. F. Scott Fitzgerald veröffentlicht seinen ersten Roman und Sigmund Freud seine Abhandlung «Jenseits des Lustprinzips», über die Macht der Triebe und der Verdrängung. In Antwerpen finden die vierten Olympischen Spiele der Neuzeit statt, Piet Mondrian malt zum ersten Mal in jenem geometrischen Stil, den er fortan nicht mehr aufgeben wird, Greta Garbo wird erstmals auf Zelluloid gebannt, und Lenin hält seine Rede «Den Kapitalismus einholen und überholen».
Diese fast zufällig herausgegriffenen Ereignisse, die mit den Eckdaten des Lebens von Max Weber verbunden sind, illustrieren den Charakter der Epoche, in der sich dieses Leben zugetragen hat. In ihr wird unabweisbar, dass die Welt
eine
Welt ist. Es trägt sich zu, was wir heute «Globalisierung» nennen und irrtümlicherweise für etwas ganz Neues halten. Der Industriekapitalismus erlebt seinen Höhepunkt, technische Innovationen wie der Telegraph, das Dampfschiff ohne Segel und die Nutzung von Elektrizität erschließen Raum und Zeit. «Weiße Flecken» auf den Landkarten gibt es bald nur noch in den Polargebieten. Die großen Ideologien – Nationalismus, Liberalismus, Sozialismus und Kommunismus – werden ausgeformt und technische Utopien formuliert, die Zeitgenossen erleben den Aufstieg der Vereinigten Staaten von Amerika und der Sowjetherrschaft. Der Kapitalismus zeigt sich zusammen mit der Massendemokratie, der in Disziplinen organisierten Wissenschaft sowie der Säkularisierung als bewegende Macht des Weltgeschehens, und sogleich versuchen verschiedene Gesellschaftsentwürfe und intellektuelle «Projekte» sich aus dieser Welt zu verabschieden. Anonyme und dezentrale Kräfte treiben den gesellschaftlichen Wandel voran, was bei vielen das Bedürfnis weckt, die Geschichte gewaltsam wieder in den Griff zu bekommen.
Im selben Zeitraum, zwischen Geburt und Tod Max Webers, hat Deutschland, über dessen Gesellschaft er am meisten nachdenkt, besonderen Anteil an diesen welthistorischen Veränderungen. Als Weber geboren wird, leben knapp siebenunddreißig Millionen Menschen auf dem Gebiet, das wenige Jahre später das Deutsche Reich heißen wird, zwei Drittel davon in Gemeinden mit weniger als zweitausend Einwohnern, nicht einmal zwei Millionen in Städten mit mehr als einhunderttausend Einwohnern. Als er stirbt, ist die Bevölkerung Deutschlands trotz der Verluste im Weltkrieg und der vielen Grippetoten und obwohl im Westen und Osten große Gebiete an Frankreich und Polen abgetreten wurden, auf knapp zweiundsechzig Millionen angewachsen. Mehr als fünfzehn Millionen davon leben in Großstädten, nur noch etwa ein Drittel in Gemeinden unter zweitausend Einwohnern. Die Industrieproduktion des Landes betrug 1864 umgerechnet 492 Millionen amerikanische Dollar (Großbritannien brachte es auf 1 , 12 Milliarden), 1905 – als Webers berühmteste Schrift «Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus» erscheint – liegt sie bei 2 , 48 Milliarden Dollar (Großbritannien: 2 , 85 Milliarden Dollar). Der Vergleich zeigt, wie schnell sich Deutschland in jenen Jahren entwickelt und zum Vorreiterland der industriellen Revolution aufgeholt hat. In Webers Geburtsjahr studierten in Preußen ein halbes Prozent der Zwanzig- bis Vierundzwanzigjährigen, in seinem Todesjahr hat sich ihr Anteil vervierfacht: 1864 gab es insgesamt etwa siebentausend Studenten, als Weber selbst das Studium aufnimmt, sind es knapp achtzehntausend, als er stirbt, gut dreiundsechzigtausend.
Zwischen 1864 und 1920 durchläuft das Land überdies einen massiven politischen und rechtlichen Wandel. Das von liberalen Abgeordneten dominierte Parlament Preußens hatte mit dem Kabinett des Königs von 1859 an den preußischen Verfassungskonflikt über die Frage ausgetragen, wem von beiden das Budgetrecht und damit die Finanzierungshoheit über die Armee zustand. Otto von Bismarck, der im Verlauf dieser Krise 1862 zum Ministerpräsidenten Preußens ernannt wurde, gab die Macht fortan nicht mehr ab; obwohl das Königreich eigentlich eine konstitutionelle Monarchie ist, erkennen manche daher in Bismarck den eigentlichen Souverän jener Jahre. Unter seiner Führung wird 1867 der «Norddeutsche Bund», nach Beitritt von Baden, Bayern, Hessen und Württemberg 1871 das Deutsche Reich gegründet. Im Jahr 1900
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