Max Weber: Ein Leben zwischen den Epochen (German Edition)
seit mehr als hundert Jahren in die falsche Richtung bewege, durch heroischen Widerstand aus den Angeln zu heben. Denn das ist ja das Merkwürdige an dem von Simmel mitgeteilten Gefühl: Dass am Ende einer Zeit der permanenten Umwälzung und ständigen Neuerung bei vielen weniger das Bedürfnis entstanden war, diese unvertraute Epoche zu begreifen, sondern die Erwartung entstand, die Hauptsache, etwas ganz Großes, mit dem sich der Sinn all dieses Wandels erschließen lasse, stehe noch bevor.
Max Weber umschrieb, als er einmal die Politik Wilhelms II . kommentierte, dasselbe Gefühl etwas anders. «Man hat den Eindruck, als säße man in einem Eisenbahnzuge von großer Geschwindigkeit, wäre aber im Zweifel, ob auch die nächste Weiche richtig gestellt werden würde.» [2] Wer in einem solchen Zug sitzt, für den werden diese nächste Weiche und das Begreifen von Weichenstellungen zur Hauptsache. Weber versuchte in einer Zeit, die viele in Weltanschauungen oder in Resignation gegenüber einem unverständlichen historischen Ablauf hineintrieb, das Denken nicht preiszugeben: Wie lässt sich das gesellschaftliche Leben beschreiben, ohne dabei einer Ideologie oder leichtfertigen Zeitdiagnosen zu folgen? Wir können heute nicht mehr die Antworten wiederholen, die Weber in seiner Zeit auf die Erfahrung ihrer Krisen gegeben hat. Der Sinn einer intellektuellen Biographie wäre aber erfüllt, wenn sich an ihr etwas über die Fragen lernen ließe – die Fragen der Lebensführung und die Fragen der Gesellschaftsbeschreibung, die für dieses Werk und dieses Leben die bedrängendsten waren.
ERSTES KAPITEL
ZWEITES KAPITEL
DRITTES KAPITEL
VIERTES KAPITEL
FÜNFTES KAPITEL
SECHSTES KAPITEL
SIEBTES KAPITEL
ACHTES KAPITEL
NEUNTES KAPITEL
ZEHNTES KAPITEL
DER IROKESENSTAAT , DER SCHNEIDER FRIEDRICH WILHELMS IV . UND DIE OBJEKTIVITÄT VON GOETHES LIEBESBRIEFEN
Fragmentarisch ein besserer Mensch werden zu wollen, ist ein vergeblicher Versuch.
Immanuel Kant
I m Verzeichnis der Schriften Max Webers finden sich auch Einträge für die Jahre von 1898 bis 1902 . Aber die sind kaum der Rede wert: kaum eine Handvoll Vorbemerkungen zu Büchern anderer Autoren, eine Umarbeitung der «Agrarverhältnisse im Altertum», neun Seiten pro Jahr. An welcher Arbeit sitzt er nun, als im Herbst 1902 erste vorsichtige Zeichen der Erholung spürbar sind? An etwas Vertrautem aus dem Spektrum seiner agrarpolitischen Interessen, seiner schlafwandlerischen Kenntnis der antiken Sozialordnung oder der Beiträge zur Funktion der Börse? An etwas, das ihm in der Zeit der Rekonvaleszenz zufiel, aus den Lektüren etwa, die er in Rom pflegte, zum Mönchstum oder zur Reformation? Oder setzte er die Kontroversen fort, die ihn mit der politischen Lage des deutschen Reichs verbanden? Wer derart krank war, ist frei darin, womit er sich wieder meldet: mit Leichtem, Liegengelassenem, inzwischen Erfahrenem, Beiträgen zur Krise selbst, die das Kranksein war, oder mit etwas, das durch Zugänglichkeit für den Wiedereintritt des entschuldigt Abwesenden wirbt.
Weber tut nichts von alledem. Kaum dass er sich wieder für längere Zeit am Schreibtisch halten kann, schreibt er stattdessen als Allererstes einen unsagbar trockenen Aufsatz über methodologische Probleme im Werk zweier deutscher Nationalökonomen. Mit «Roscher, Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie» quält er sich geraume Zeit und vermutet sogar, das Stück koste ihn die Kraft, die eventuell für ein Universitätskolleg ausgereicht hätte. Schließlich erscheint es in drei Teilen: 1903 , 1905 und 1906 und hat insgesamt hundertvierzig Seiten. Dazwischen schreibt Weber einen weiteren Aufsatz zur Wissenschaftstheorie, «Die ‹Objektivität› sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis», der fünfundsechzig Seiten umfasst. Knapp darunter liegen mit vierundsechzig Seiten die 1906 veröffentlichten «Kritischen Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik», während die methodologische Auseinandersetzung mit Richard Stammler, den heute niemand mehr kennt, siebenundfünfzig Seiten umfasste. Innerhalb von sechs Jahren schreibt er also mehr als dreihundert Seiten zur Wissenschaftstheorie der Sozialwissenschaften, für die es kaum Leser gab. 1906 , in dem Jahr, in dem er gleich zwei solcher Beiträge vorlegt, notiert er die unablässigen Klagen der Leser des «Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik» über seine methodologischen
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