Max Weber: Ein Leben zwischen den Epochen (German Edition)
indem sie diese jeweils auf einen Faktor zurückführen: den Klassen- oder den Rassenkampf, das Ressentiment oder das Unbewusste, die Physiologie der Akteure oder ihr Milieu, den Volksgeist und so weiter. Der Eigennutz war hier also nur ein Faktor unter vielen, auf den das soziale Handeln reduziert wurde. Weber setzt dem entgegen, dass jede Wirklichkeit in einer Unendlichkeit von kausalen Bezügen steht, alles tausend Ursachen hat: «Wir ständen, selbst mit der denkbar umfassendsten Kenntnis aller ‹Gesetze› des Geschehens, ratlos vor der Frage: wie ist kausale Erklärung einer individuellen Tatsache überhaupt möglich?, – da schon eine Beschreibung selbst des kleinsten Ausschnittes der Wirklichkeit ja niemals erschöpfend denkbar ist.» [278] Schon seine Studien über die ostelbischen Landarbeiter oder die antike Agrargeschichte hatten Weber gelehrt, dass wirtschaftliche Handlungen keineswegs allein von wirtschaftlichen Umständen abhängen. Dementsprechend will er nicht nur ökonomische Vorgänge in die sozialökonomischen Untersuchungen einbeziehen, sondern auch wirtschaftlich relevante (wie Gesetzgebung, Mentalität, Technik) und wirtschaftlich bedingte Tatbestände (etwa alles, was finanziert werden muss). Weber glaubt auch nicht, dass die Wirklichkeit aus Gesetzen abgeleitet werden kann. Kausalgesetze sind für ihn nur ein Erkenntnismittel, kein Erkenntniszweck: Aus einem Gesetz geht niemals die Bedeutung des unter ihm befassten Vorganges hervor, soziale Tatsachen aber sind bedeutungshaltig. Selbst die Entscheidung eines Menschen, sein wirtschaftliches Handeln an seinem Eigennutz auszurichten, ist historisch bedingt – sie hätte genauso anders ausfallen können und ist darum verstehbar (oder aber erklärungsbedürftig). Und auch der Wissenschaftler, der beschließt, sich auf die Untersuchung des Eigennutzes zu konzentrieren, trifft diese Entscheidung nicht aus eigennützigen, sondern aus disziplinären, erkenntnistheoretischen oder thematischen Erwägungen: «Was aber für uns Bedeutung hat, das ist natürlich durch keine ‹voraussetzungslose› Untersuchung des empirisch Gegebenen zu erschließen, sondern seine Feststellung ist Voraussetzung dafür, daß etwas Gegenstand der Untersuchung wird.» [279] Webers Argument ist ganz einfach: Bedeutung hat für uns ein historischer Vorgang nicht in dem, was er mit allen anderen vergleichbaren Vorgängen teilt, sondern durch das, was ihn besonders macht. Und zwar:
für uns
besonders macht.
Ein Beispiel, das Weber selbst andeutet und das schon auf seine späteren Studien hinweist: Die Marktwirtschaft zu erforschen heißt für ihn selbstverständlich, der Logik des Tauschs und der Zahlung nachzugehen – doch wie es die Marktwirtschaft zu ihrer in der Moderne beherrschenden Rolle gebracht hat und weshalb sie sich hier anders als in der Antike entfalten konnte, wo schließlich ebenfalls eigennützig getauscht wurde, das geht aus den ewigen Tauschgesetzen für egoistische Güterbesitzer nicht hervor. «Für die exakte Naturwissenschaft sind die ‹Gesetze› um so wichtiger und wertvoller, je allgemeingültiger sie sind; für die Erkenntnis der historischen Erscheinungen in ihrer konkreten Voraussetzung sind die allgemeinsten Gesetze, weil die inhaltleersten, regelmäßig auch die wertlosesten.» [280] Denn die historische Sozialwissenschaft hat es mit Einmaligem und für Weber mit dem Wert des Einmaligen zu tun.
Die Sozialwissenschaft, deren Krankheitsbericht Weber in seinen methodologischen Aufsätzen schreibt, ist also deshalb in eine Krise geraten, weil sie in Begriffe ohne Anschauungen und Anschauungen ohne Begriffe zerfiel. In Exaktheit, die an der Geschichte vorbeigriff, und in historische Kenntnis, mit der aufgrund ihrer Ziellosigkeit nichts anzufangen war und die darauf hinauszulaufen schien, dass es von der Geschichte überhaupt keine Wissenschaft gibt, sondern nur mehr oder weniger beliebige Erzählungen. Die Wirklichkeit selbst liefert keine Gesichtspunkte für den Forscher, davon ist Weber zutiefst überzeugt, sondern nur ein strukturloses «Chaos» an Tatsachen, und sie gibt Erkenntnis erst her, wenn man mit Begriffen an sie herantritt. Doch wie verhindert man, dass diese Begriffe willkürlich gebildet werden?
Die Antwort gibt Webers berühmte Lehre von der «Idealtypenbildung», die in seinem medizinischen Bild die durchschlagende Therapie jener Wissenschaftskrise darstellt: Mit einem Gegenwartsinteresse, beispielsweise dem Interesse an der
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