Max Weber (German Edition)
nach den Grenzen der Rationalität nach. In seinen Ausführungen über Akkordharmonik und Melodik, zwischen musikalischer Theorie und musikantischer Praxis schlugen sich letztlich die Spannungen zwischen Ratio und Emotion nieder. In diesem schwer zu lesenden Text über das «musikalische Gesetz» stieß Weber auf die Einsicht, dass selbst die abendländische Pentatonik, d.h. die absolute Quintenprogression, sich nicht im 12. Schritt zum Kreis schließt, dass auch die mäßig grobe Verstimmung der «temperierten Quint» allenfalls eine Scheinlösung ist, erkauft allein durch die Ungleichheit der Distanzen. Die praktische Musik, d.h. die von Menschen tatsächlich praktizierte Musik, entsteht allein im freien Umgang mit der Regel, sie birgt darum das Material der Freiheit in sich. Die Regel ist nicht das Leben, das Handeln geht nicht in der Ausführung des Handelnden auf. Das tatsächliche Handeln ist immer auch die Improvisation, die Abweichung von und das freie Spiel mit der Regel. Selbst die kulturelle Konditionierung des (okzidentalen) Ohrs durch die verbindliche Erziehung zur «harmonischen» Musik führt nicht an der Tatsache vorbei, dass gerade auch in der Kulturpraxis nicht alles so «rationalisierbar» ist, wie es sich Max Weber, dieser «Sohn der modernen europäischen Kulturwelt», vorstellte und es in der Vorbemerkung so vehement beschworen hatte.
Es mag schon wahr sein, was er dort über die «rationale harmonische Musik» schrieb, die es so «nur im Okzident» gab – allein er selbst war konfrontiert mit der Einsicht, dass ebendiese okzidentale Rationalität nicht so «rational» war, wie es die rein mathematische Logik erzwingen würde! Ob ihn das beunruhigt oder eher getröstet hat, wissen wir nicht. Wir können nur schließen, dass er erkannt haben muss, dass sein eigenes Schreckensbild von der ausweglosen Entwicklung in die Gehäuse der fellachenartigen Hörigkeit der Menschen, die durch den modernen rationalen Betriebskapitalismus und die übermächtigen bürokratischen Maschinen entmündigt werden, nicht das letzte Wort sein muss.
Und so bietet es sich an, nochmals und am Ende dieser Darstellung an das eingangs genannte Bild vom Propheten Max Weber zu erinnern. In den Passagen des Alten Testament im Buch Deuteronomium wird über das Ende des Propheten Mose berichtet, wie dieser auf den Nebo, den Gipfel des Pisga gegenüber Jericho, steigt, wo ihm Gott das ganze Land zeigt: «Der Herr sagte zu ihm: Das ist das Land, das ich Abraham, Isaak und Jakob versprochen habe mit dem Schwur: Deinen Nachkommen werde ich es geben. Ich habe es dich mit deinen Augen schauen lassen. Hinüberziehen wirst du nicht. Danach starb Mose, der Knecht des Herrn […] wie es der Herr bestimmt hatte.»
Es muss nicht als Überzeichnung gesehen werden zu behaupten, dass auch Max Weber, am Ende seines Lebens, einen Blick auf eine Landschaft «jenseits des Jordan» warf: Zum einen sah er sowohl die Vorzüge als auch die Schrecknisse der totalen Rationalisierung der sozialen Wirklichkeit, zum anderen jedoch die Freiheitsspielräume für freie und selbstbestimmte Bürger. Es war ihm weder vergönnt noch zugemutet zu erleben, wie sich diese beiden Sichtweisen in den Jahrzehnten nach seinem Tod in der Geschichte des von ihm so geliebten Deutschland niederschlugen.
Am Abend des 14. Juni 1920, einem Montag, um 18:15 Uhr starb Max Weber in seiner Münchner Mietwohnung in der Schwabinger Seestraße während eines Gewitters. Die Feuerbestattung im Münchner Ostfriedhof fand am Donnerstag, dem 17. Juni, statt. Auf dem Heidelberger Bergfriedhof sind die Urnen der Eheleute Weber beigesetzt. Auf dem vom Sohn des Heidelberger Philosophen Heinrich Rickert, Arnold Rickert, gestalteten hohen vierkantigen Pfeiler, bekrönt mit einer stilisierten Urne, liest man auf der Vorderseite
MAX WEBER
1864 – 1920
MARIANNE WEBER
1870 – 1954
Auf der linken Seite der Säule ließ Marianne Weber einmeißeln: «Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis», auf der rechten Seite liest der Betrachter: «Wir finden nimmer seinesgleichen.» Jene Menschen, die von ihm Größeres erwartet, ja gefordert hatten, sowohl wissenschaftlich als auch politisch, beklagten den «zu frühen» Verlust und die Tatsache des unvollendeten und abgebrochenen Werkes. Wer sich an den Aphoristiker Emil Cioran hält, kann es anders sehen: «Letztlich können nur die abgebrochenen Schicksale als vollendet gelten.»
XIII Editionen und Forschungsliteratur
Hinweis: Für die
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