Willkommen im Wahnsinn: Roman (German Edition)
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Der Zug scheint ewig lange außerhalb der Victoria Station festzustecken, und das verschafft mir eine Gelegenheit, meine soeben gekaufte Ausgabe der Hot Slebs in den mir verbleibenden drei Quadratzentimetern Luftraum unter dem Arm eines schlaksigen Pendlers im Tweedjackett zu lesen. Tweed. Im Juni. Also, wie finden Sie das? Falls Sie mich verachten, weil ich im relativ fortgeschrittenen Alter von dreiunddreißig immer noch ein Klatschblatt lese, darf ich Sie vielleicht auf eine wichtige Tatsache hinweisen: Wenn man in der Welt der Promi-PR arbeitet, ist der Mittwochmorgen besonders stressig. Da erscheint nämlich die Hot Slebs, und die Klienten, für die man sich abrackert, sollten besser darin erwähnt werden. Und zwar – darauf kommt’s an – auf die richtige Art und Weise. Kein dicker gelber Pfeil, der auf Cellulitis zeigt, auf unpassende Körperbehaarung oder mysteriöse kahle Stellen am Kopf; keine Fragen von der Sorte: »Was halten Sie von diesem Outfit?«, oder »Wer sieht am schrecklichsten in diesem Kleid aus?« (Sie). Stattdessen muss man »zufällig« bei einem heimlichen Besuch im Kinderhospiz geknipst oder beobachtet werden, wie man im Morgengrauen aus dem Hotelzimmer eines Rockstars schleicht, und zwar in der
Woche, in der sein neues Album erscheint. Oder dann, wenn man – schick herausgeputzt, mit strahlendem Lächeln und medienwirksam – über einen roten Teppich schreitet. Wenn ich meine Hot-Slebs -Ausgaben öffne, suche ich nur nach bösen Überraschungen. Das gehört zu meinem Job, okay? Und ist Ihnen in letzter Zeit Jodie Marshs Zustand aufgefallen?
Plötzlich merke ich, dass Mr Tweed meine Beschäftigung mit dem Magazin nicht für das wichtige Projekt hält, das es nun mal ist. Stattdessen glaubt er anscheinend, ich würde das Hot-Slebs -Magazin nur benutzen, um näher an ihn heranzurücken. Ermutigend grinst er mich an und zwinkert mir unter dem fettigen roten Haar zu, das in sein Gesicht hängt. Während ich versuche, Entrüstung ohne direkten Augenkontakt zu bekunden, zwänge ich mich in einen schmalen Spalt zu meiner Rechten und ernte einen giftigen Blick von der dicken Frau, die am Fenster lehnt. Keine Chance mehr, meine Zeitschrift zu studieren. Aber als ich ein Auge zusammenkneife und blinzle, kann ich mein Horoskop in ihrer Zeitung lesen. »Waage: Du wirst einem großen Fremden näherkommen.« Übersetzung: »Waage: Dein ganzer Körper wird sich gegen deinen Willen an einen lasziven Pendler im Tweedjackett pressen, der strähniges rotes Haar über seine Halbglatze gekämmt hat.« Die Besitzerin der Zeitung schwenkt sie aggressiv in meine Richtung und schnalzt geräuschvoll mit der Zunge. Damit gibt sie mir zu verstehen, dass ich gegen die Pendlerregel Nummer zweiundvierzig verstoße: Du sollst dich nicht dabei erwischen lassen, wie du ungeniert die Literatur einer anderen Person liest.
Offensichtlich muss ich subtiler vorgehen. Und so recke
ich meinen Hals in die Richtung eines dicken Taschenbuchromans, den eine Blondine verschlingt. Irgendwie gelingt es ihr, gleichzeitig Death Metal in voller Lautstärke zu hören. Nach dem dunkelhäutigen Model zu schließen, das den Einband des Buchs ziert, scheint dieser Soundtrack nicht zum Genre des Romans zu passen. Ich versuche erst gar nicht, über die Schulter der Frau zu spähen und ein paar Zeilen zu lesen, denn in letzter Zeit gehört Romantik nicht zu meinen Stärken. Nicht einmal fiktive Romantik.
Ich meine, ist Ihnen schon mal aufgefallen, dass die moderne romantische Heldin – um es milde auszudrücken – zu nichts nütze ist? Fast jedes Buch fängt mit einem Zwischenfall an, der uns zeigen soll, wie hinreißend schusselig sie ist. Und wie zauberhaft das auf alle Männer wirkt, die ihr über den Weg laufen. Ups, meine vollgestopfte Handtasche fiel auf den Gehsteig, und wer half mir, die vierhundert Lippenstifte und Schuhe einzusammeln, die herausgequollen sind? Ein umwerfender Mann, der sich prompt in mich verliebte. Happy End. Oder nein, noch besser – ich musste mich bis auf die Unterwäsche vor einem sexy Doktor ausziehen. Wie sich herausstellte, trug ich einen Slip, der »Dienstag« schrie, und es war Freitag. Wie peinlich! Dann heirateten wir. Oder, oh, der traumhafte Boss, den ich mit meinen Fachkenntnissen zu beeindrucken hoffte, scheint sich mehr für mein Dekolletee zu interessieren. Wenn ich bloß damit aufhören könnte, meine Blusenknöpfe ständig aufspringen zu lassen, dann wäre er wahrscheinlich nicht
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