Maya und der Mammutstein
verschwunden war, hatten sie gewußt, daß es schon bald sein würde.
Das Volk des Mammuts hatte sich niemanden zum Stammes führer erwählt, nicht einmal Alten Zauber mit all seinem Wis sen über die Geister der Erde und des Himmels und des Feuers.
Vielmehr verhielt es sich so, daß derjenige, der in einem bestimmten Fall der geeignetste war, sie zu führen, dies auch tat; Haut hatte sie in der Vergangenheit schon erfolgreich bei anstrengenden Wanderungen geführt. Es war eine ganz natürliche Entscheidung gewesen, ihn auch dieses Mal wieder mit dieser Aufgabe zu betrauen. Nun, da der dreiundzwanzigjährige, im mittleren Lebensabschnitt stehende Mann vorsichtig an der Spitze seines Volkes schritt, verspürte er ein vages Gefühl der Befriedigung. Der Geruch des Wassers drang ihm in die Nase, und er stellte sich vor, das sanfte Plätschern des glitzern den Naß zu hören, wenn es über rundgeschliffene Steine floß. Wieder einmal hatten sein Wissen und seine Erfahrung zum Erhalt seines Volkes beigetragen. Bald würde es jedoch an der Zeit, die Verantwortung abzugeben und einem anderen die Führung zu überlassen. Vielleicht Speer, dem besten ihrer Jäger, oder Stein, der die kostbaren Klingen aus Feuerstein und Chalzedon fertigte, die die Spitzen der Waffen des Volkes bildeten. Selbst Feuer wäre einem seßhaften Vo lk ein besserer Führer als Haut, der indes nichts Schlimmes daran fand, diese Tatsache zuzugeben. Bald würde Haut sich wieder in seine ihm vertrautere Rolle als Fährtenleser und Jäger schicken, neben dem Feuer liegen und Geschichten erzählen und auf die Geburt seines Sohnes warten.
Bald, betete er stumm, während sein Blick über den langgezogenen, sanft ansteigenden und mit kurzem braunen Gras bewachsenen Hügel schweifte, der vor ihnen lag. Seine Nase war in diesem Fall besser als seine Augen. Er konnte das Wasser riechen, bevor er es sah. Dies war einer der Gründe, warum er den Wanderzug anführte: Für das Volk gab es keine kostbarere Fähigkeit als die, Wasser aufzuspüren.
Als der Stamm die langgestreckte Erhebung inmitten der endlosen braunen Tundra langsam erklomm, konnte Haut ganz deutlich das Geräusch des Wassers vernehmen. Es existierte nicht länger nur in seiner Phantasie. Das tiefe, gurgelnde Plätschern erfüllte ihn mit Hoffnung; mit Sicherheit eine große Quelle, möglicherweise gar ein kleiner Fluß. Er lächelte in sich hinein, erfüllt von einem Gefühl der Zufriedenheit. Mit weit ausgreifenden Schritten strebte er vorwärts, begierig darauf, den Ursprung jener Wassergeräusche auch mit Augen zu sehen, so daß er sich beinahe dreihundert Stocklängen vom übrigen Stamm befand, als er endlich den höchsten Punkt erreichte und abrupt zum Halten kam. Ein Ausdruck ungläubigen Staunens machte sich auf seinem flachen Gesicht breit.
Das Herz klopfte ihm in der Brust. Er konnte nur dastehen und hinuntersehen; das Rumoren aus dem Norden, der immer gegenwärtige Wind, sogar das Volk selbst war vorübergehend vergessen.
»Oh, ihr Geister des Wassers!« flüsterte er leise den Gottheiten zu, die ihn führten, ein Gebet tiefempfundender Dankbarkeit. Auch diese Seite des Hügels war hoch oben mit dem braunen Gras der Tundra bewachsen.
Doch weniger als zweihundert Stocklängen weiter den Hang hinab endete die Steppe. Dahinter schien die Welt in zwei Hälften geteilt. Mindestens einhundert Stocklängen tief fiel der Felsen steil ab u nd in der Ferne ragten ebenso hohe Steinkolosse zum Himmel auf. In der Mitte erstreckte sich von Norden nach Süden ein weites Tal. Immer noch war das Wasser seinem Blick verborgen, doch Haut wußte, daß es zumindest ein kleiner Fluß war, der dort in der Tiefe in seinem Bett dahinfloß. Und doch war es nicht dieses Wissen, was ihn ein Gefühl freudiger Erregung empfinden ließ. Was ihn so beeindruckte, daß er in atemloser Stille dort stand, war das, was er tief unten im Tal erspähte.
Bäume. Aber es waren Bäume, wie er sie in dieser Art und dieser großen Anzahl noch nie gesehen hatte.
Alter Zauber schloß zu ihm auf und blieb lange Zeit schweigend neben ihm stehen. Haut konnte hören, wie er ein- und ausatmete, konnte das leise, reibende Kratzgeräusch in der Brust des alten Mannes vernehmen.
Er wandte sich um, blickte dem Schamanen ins Gesicht und fragte: »Was ist das? Sie sehen wie Bäume aus, aber ich habe noch nie zuvor solche Bäume gesehen.«
Alter Zauber rieb sich über das Kinn, während er die Augen verengte und angestrengt das Tal
Weitere Kostenlose Bücher