McEwan Ian
Mir fällt auf, daß ich seit meinem kleinen Stück eigentlich keinen besonders weiten Weg zurückgelegt habe. Oder sagen wir, ich habe einen riesigen Umweg gemacht, um wieder an die Stelle zu kommen, von der aus ich losgezogen bin. Erst meine letzte Version geht für die Liebenden gut aus. Nebeneinander stehen sie auf einem Bürgersteig im südlichen London, und ich gehe fort. Sämtliche vorhergehenden Überarbeitungen haben dagegen keine Gnade gekannt. Doch heute fällt mir nicht mehr ein, welchem Zweck es diente, wenn ich meinen Leser direkt oder indirekt davon zu überzeugen suchte, daß etwa Robbie Turner am 1. Juni 1940 bei Bray-le-Dunes an einer Blutvergiftung verendete oder daß Cecilia im September desselben Jahres durch ebenjene Bombe starb, die auch die Station der Untergrundbahn in Balham zerstörte. Oder daß ich sie in jenem Jahr gar nicht gesehen habe. Daß mein Spaziergang durch London in der Kirche auf dem Clapham Common endete und daß eine feige Briony zurück zum Krankenhaus humpelte, da sie es nicht gewagt hatte, ihrer Schwester, die gerade erst ihren Liebsten verloren hatte, unter die Augen zu treten. Daß die Briefe, die sich das Paar schrieb, in den Archiven des War Museum liegen. Wie sollte dies ein Ende ergeben? Welchen Sinn hätte es, welche Hoffnung, welche Befriedigung könnte ein Leser aus einer solchen Erzählung ziehen? Wer möchte schon glauben, daß sie sich nie wieder begegnet sind, daß sie niemals ihre Liebe erleben durften? Wer wollte das schon glauben, selbst wenn er dem trostlosestem Realismus huldigte? Ich konnte ihnen das nicht antun. Ich bin zu alt, zu verängstigt, zu sehr in den letzten Rest meines Lebens verliebt. Mich erwartet eine Flut des Vergessens, dann das Vergessen selbst. Ich habe nicht mehr den Mut, den mir mein Pessimismus gab. Wenn ich tot bin und die Marshalls sind tot und wenn der Roman schließlich veröffentlicht wird, dann werden wir nur noch als meine Schöpfungen existieren. Briony wird ebenso bloß eine Phantasiegestalt sein wie die Liebenden, die in Balham ein Bett teilten und ihre Zimmerwirtin in Rage brachten. Niemand interessiert sich dann noch dafür, welche Ereignisse, welche Gestalten verfälscht wurden, um sich zu einem Roman zusammenzufinden. Ich weiß, es wird immer eine gewisse Sorte Leser geben, die unbedingt fragen muß, was denn nun tatsächlich geschah. Die Antwort ist einfach: Die Liebenden leben glücklich bis zum heutigen Tag. Solange es noch ein einziges Exemplar gibt, ein einsames Manuskript meiner letzten Version, so lange werden auch meine impulsive, fortune Schwester und ihr heilkundiger Fürst überdauern, um sich zu lieben.
Das Problem in allen diesen neunundfünfzig Jahren lautete folgendermaßen: Wie vermag eine Schriftstellerin Absolution zu erlangen, wie Abbitte zu leisten, wenn sie, die mit uneingeschränkter Macht über das Ende entscheidet, zugleich auch Gott ist? Es gibt niemanden, kein Wesen, kein höheres Geschöpf, an das sie appellieren, mit dem sie sich versöhnen, das ihr verzeihen könnte. Außer ihr ist nichts. In ihrer Phantasie hat sie die Grenzen und Bedingungen festgelegt. Keine Absolution für Götter oder für Romanschriftsteller, auch wenn sie Atheisten sind. Das war schon immer eine unlösbare Aufgabe, aber ebendarauf kam es an. Der Versuch allein zählte.
Ich stehe am Fenster, spüre Wellen der Müdigkeit die letzte Kraft aus meinem Körper spülen. Der Boden scheint unter meinen Füßen zu wogen. Ich habe zugesehen, wie das erste graue Licht den Park und die Brücken über den verschwundenen See zum Vorschein brachte. Und den langen, schmalen Weg, auf dem Robbie fortgefahren worden war, hinein ins Weiß. Ich stelle mir gern vor, daß es weder Willensschwäche noch ein unlauterer Winkelzug, sondern ein letzter Akt der Güte ist, Widerstand gegen Verzweiflung und Vergessen, daß ich meine Liebenden leben lasse und sie am Ende miteinander vereine. Ich gab ihnen Glück, doch war ich nicht so selbstsüchtig, mir von ihnen vergeben zu lassen. Nicht ganz, noch nicht. Hätte ich die Macht, sie auf meiner Geburtstagsfeier heraufzubeschwören… Robbie und Cecilia, noch am Leben, noch verliebt, Seite an Seite in der Bibliothek, lächelnd über die Heimsuchungen Arabellas? Unmöglich wäre es nicht.
Doch jetzt muß ich schlafen.
Danksagung
Den Mitarbeitern des Archivs im Imperial War Museum bin ich zu Dank verpflichtet, da sie mich unveröffentlichte Briefe, Zeitschriften und die Lebenserinnerungen von Soldaten
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