Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
McEwan Ian

McEwan Ian

Titel: McEwan Ian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abbitte
Vom Netzwerk:
»25-Pfünder-Geschütz«. Ihre Wortwahl klingt höchst bizarr, selbst für jemanden, der nicht in der Royal Artillery gewesen ist. Wie Polizisten eines Suchkommandos kriechen wir auf Knien und Händen der Wahrheit entgegen.
Sie lassen diesen Burschen der Royal Air Force ein Barett tragen. Davon kann ich nur abraten. Vom Panzerkorps einmal abgesehen, gab es Baretts 1940 nicht einmal in der Armee. Ich denke, Sie sollten Ihrem Mann lieber ein Schiffchen aufsetzen. Schließlich ließ der Oberst, der seinen Brief damit begonnen hatte, daß er mich als »Miss Tallis« anredete, ein wenig Ungeduld mit meinem Geschlecht erkennen. Was hatte sich unsereins denn auch in diese Dinge einzumischen?
Meine liebe Dame (»Dame« dreimal unterstrichen) – ein Stuka hat keine »Tausend-Tonnen-Bombe« an Bord. Wissen Sie eigentlich, daß selbst eine Fregatte der Marine kaum so viel wiegt? Ich schlage vor, Sie gehen der Sache noch einmal nach. Bloß ein Tippfehler. Eigentlich hatte ich »Pfund« schreiben wollen. Ich notierte mir die nötigen Änderungen, schrieb einen Dankesbrief an den Oberst und zahlte für die Fotokopien einiger Dokumente, die ordentlich gestapelt meiner eigenen Sammlung beigefügt werden sollten. Dann brachte ich die von mir benutzten Bücher zur Ausleihe zurück und warf diverse Zettel in den Müll. Mein Arbeitsplatz war aufgeräumt, sämtliche Spuren meiner Anwesenheit beseitigt. Als ich mich vom Bibliothekar verabschiedete, erfuhr ich, daß die Marshall-Stiftung dem Museum eine Spende zukommen lassen wollte. Nachdem ich auch den übrigen Bibliotheksmitarbeitern die Hand gegeben und versprochen hatte, die Unterstützung des Museums im Buch dankend zu erwähnen, rief man den Pförtner, der mich nach unten begleitete. Das Mädchen in der Garderobe war so freundlich, mir ein Taxi zu bestellen, und einer der jüngeren Türsteher trug meine Tasche bis hinaus auf den Bürgersteig. Auf der Fahrt zurück in den nördlichen Teil Londons dachte ich an den Brief des Obersts oder vielmehr daran, welches Vergnügen mir doch diese scheinbar trivialen Kleinigkeiten bereiteten. Wenn mir aber Fakten wirklich so viel bedeuteten, hätte ich vielleicht ein anderes Buch schreiben sollen. Doch das Werk war getan. Es würde keine weiteren Fassungen geben. Diesen Gedanken hing ich nach, als wir durch den alten Tunnel unter dem Aldwychbogen fuhren und ich einschlief. Als mich der Fahrer weckte, stand das Taxi vor meiner Wohnung in Regent’s Park.
Ich sortierte die Papiere ein, die ich aus der Bibliothek mitgebracht hatte, machte mir ein Sandwich und packte meinen Koffer. Während ich durch meine Wohnung ging, von einem vertrauten Zimmer ins andere, dachte ich daran, daß die Jahre meiner Unabhängigkeit bald vorbei sein würden. Auf meinem Tisch stand ein Foto von Thierry, meinem Mann, aufgenommen zwei Jahre vor seinem Tod in Marseille. Eines Tages würde ich fragen, wer dieser Mann ist. Ich tröstete mich damit, daß ich in aller Ruhe ein Kleid für mein Geburtstagsdinner aussuchte. Allein der Blick in den Schrank war eine Verjüngungskur. Ich bin schlanker als noch vor einem Jahr. Während meine Finger über die Bügel wanderten, vergaß ich minutenlang die Diagnose. Schließlich entschied ich mich für ein taubengraues Hemdblusenkleid aus Kaschmirwolle. Der Rest ergab sich wie von selbst: ein weißes Satintuch, gehalten von Emilys Kameenbrosche, lacklederne Pumps – natürlich mit flachem Absatz – und ein schwarzer Dévoré-Seidenschal. Ich schloß den Koffer und fand ihn überraschend leicht, als ich ihn in den Flur trug. Vor meiner Rückkehr würde morgen meine Sekretärin kommen. Ich hinterließ ihr eine Nachricht, notierte die Aufgaben, die ich erledigt haben wollte, nahm dann ein Buch und setzte mich mit einer Tasse Tee in einen Sessel an ein Fenster mit Blick auf den Park. Ich habe schon immer gut beiseite schieben können, was mir wirklich Sorgen machte. Doch lesen konnte ich nicht. Ich war zu aufgeregt. Eine Fahrt aufs Land, ein Essen zu meinen Ehren, ein Auffrischen der Familienbande. Und dabei hatte ich gerade eines dieser klassischen Arztgespräche gehabt. Ich sollte deprimiert sein. Verschloß ich mich, wie man heute so sagte, etwa der Realität? Die Frage allein änderte jedenfalls überhaupt nichts. Der Wagen kam erst in einer halben Stunde, und ich war unruhig. Ich stand aus dem Sessel auf und lief ein paarmal im Zimmer auf und ab. Wenn ich zu lange saß, taten mir die Knie weh. Lolas Anblick verfolgte mich, dieses

Weitere Kostenlose Bücher