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McEwan Ian

McEwan Ian

Titel: McEwan Ian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abbitte
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schauten sie alle in dieselbe Richtung – hinüber zu ihrer Besitzerin –, als wollten sie jeden Moment ein Lied anstimmen, ja, selbst die Hennen im Hühnerhof standen adrett in Reih und Glied. Tatsächlich war Brionys Zimmer der einzige Raum im oberen Stock, in dem wirklich Ordnung herrschte. Sogar in ihrem Puppenhaus mit seinen vielen Kammern schienen die Bewohnerinnen mit den steifen Rücken strikte Anweisung erhalten zu haben, sich keinesfalls an die Wände zu lehnen; und die vielen, daumengroßen Figuren – Cowboys, Tiefseetaucher und Menschenmäuse –, die auf der Frisierkommode in Formation standen, ließen unwillkürlich an ein Bürgerheer denken, das seinen Einsatzbefehl kaum erwarten kann.
Die Vorliebe für Miniaturen ist bezeichnend für einen ordnungsliebenden Geist, ebenso aber auch die Neigung zur Geheimniskrämerei: Verschob Briony an ihrem heißgeliebten Lackschränkchen eine quer zur Maserung eingearbeitete Schwalbenschwanzverbindung, öffnete sich ein verborgenes Schubfach, in dem sie ihr mit einer Schließe gesichertes Tagebuch sowie ein Notizbuch aufbewahrte, dessen Eintragungen nach einem selbsterfundenen Kode verschlüsselt waren. In einem Spielzeugtresor, der sich nur durch eine sechsstellige Zahlenkombination öffnen ließ, lagen Briefe und Postkarten. Eine lose Bodendiele unter ihrem Bett diente als Versteck für eine alte blecherne Portokasse. Diese enthielt vier Jahre alte Schätze, die noch von ihrem neunten Geburtstag stammten, aus jener Zeit also, in der sie mit dem Sammeln begonnen hatte: eine mutierte Doppeleichel, Katzengold, einen auf dem Rummelplatz gekauften Regenzauber und einen Eichhörnchenschädel, leicht wie eine Feder.
Doch verborgene Schubfächer, verschließbare Tagebücher und Geheimschriften konnten Briony über eines nicht hinwegtäuschen: über die schlichte Wahrheit nämlich, daß sie keine Geheimnisse hatte. Durch ihre Sehnsucht nach Harmonie und Ordnung blieben ihr die tollkühnen Möglichkeiten der Bösewichter dieser Welt versagt. Chaos und Zerstörung waren für ihren Geschmack zu unordentlich, und grausam zu sein, brachte sie einfach nicht übers Herz. Da sie wie ein Einzelkind aufwuchs und das Haus der Familie Tallis recht abgelegen war, fand sich zumindest in den Sommerferien kaum Gelegenheit zu mädchenhaften Intrigen mit irgendwelchen Freundinnen, weshalb auch in ihrem Leben nichts so interessant oder beschämend war, daß sich ein Versteck dafür gelohnt hätte. Niemand wußte etwas über den Eichhörnchenkopf unter ihrem Bett, und niemand wollte etwas davon wissen. Zur Besorgnis gab es allerdings keinen Anlaß; dieser Eindruck entstand erst im nachhinein, als Abhilfe bereits gefunden war.
Mit elf Jahren schrieb Briony ihre erste Geschichte – ein törichtes, ein halbes Dutzend Volkssagen imitierendes Stückchen, dem es, wie sie erst später begriff, an jener Weitläufigkeit mangelte, die dem Leser unwillkürlich eine gewisse Achtung abnötigt. Doch zeigte ihr bereits dieser unbeholfene erste Versuch, welch ein Quell von Geheimnissen die schöpferische Phantasie ist: Saß sie an einer Geschichte, durfte niemand davon erfahren. Das Erdachte war zu zart, zu empfindlich, zu beschämend, als daß man irgend jemandem davon erzählen durfte. Sie zuckte schon zusammen, wenn sie nur sie sagte oder und dann niederschrieb, und wurde verlegen, wenn sie vorgab, die Gefühle einer bloß erfundenen Person zu kennen. Schilderte sie die Schwächen einer Figur, gab sie notgedrungen etwas Persönliches preis, da der Leser doch zwangsläufig vermuten mußte, daß sie sich selbst beschrieb. Auf welche andere Autorität hätte sie sich sonst berufen können? Erst wenn eine Geschichte fertig war, wenn sämtliche Schicksale bekannt, alle Knoten gelöst waren und das Opus einen Anfang und ein Ende hatte, so daß es wenigstens in dieser Hinsicht allen anderen fertigen Geschichten dieser Welt glich, fühlte sie sich unangreifbar und war bereit, Löcher in den Rand zu stanzen, die Kapitel mit einem Stück Schnur zusammenzubinden, ein Deckblatt zu bemalen und das vollendete Werk ihrer Mutter oder auch ihrem Vater zu zeigen, wenn der ausnahmsweise mal zu Hause war.
Man unterstützte ihre ersten Versuche. Ja, sie wurden sogar freudig begrüßt, als der Familie Tallis aufging, daß ihr Küken eine höchst eigenwillige Phantasie besaß und mit Worten umzugehen wußte. An langen Nachmittagen wälzte sie Lexika und Wörterbücher, was zu Wendungen führte, die auf verblüffende Weise

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