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Medicus 02 - Der Schamane

Titel: Medicus 02 - Der Schamane Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Noah Gordon
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geschrieben hatte, um das Wesentliche aus seinem Leben aufzuzeichnen, und während er grübelnd in dem durchhängenden Bett lag, fragte er sich, wie wohl die Wahrheit über das Leben und den Tod von Makwa-ikwa aussah, und er befürchtete, dass diese Wahrheit ernste Gefahren in sich bergen könne.
    Schließlich stand er auf, zündete die Lampe an und schlich sich mit ihr hinunter - leise, um seine Mutter nicht aufzuwecken. Er stutzte den qualmenden Docht und drehte die Flamme so hoch wie möglich. Das Licht reichte noch immer kaum zum Lesen, und das Arbeitszimmer war zu dieser Nachtzeit ungemütlich kalt. Doch Shaman nahm den ersten Band und fing an zu lesen, und im gleichen Augenblick vergaß er die schlechte Beleuchtung und die unangenehme Temperatur, denn nun erfuhr er über seinen Vater und sich selbst mehr, als er je hatte wissen wollen.

Zweiter Teil
Frische Leinwand, neues Gemälde
11. März 1839

Der Einwanderer
    Zum erstenmal sah Rob J. Cole die Neue Welt, als an einem nebligen Frühlingstag das Postschiff Cormorant - ein schwerfälliges Schiff mit drei kurzen Masten und einem Besansegel, und dennoch der Stolz der Black Ball Line - von der Flut in einen geräumigen Hafen geschoben wurde und dort seinen Anker in die kabbelige Dünung warf. East Boston war nichts Besonderes und bestand nur aus ein paar Reihen schlecht gebauter Holzhäuser, aber von einem der Piers aus nahm Rob J. für drei Pence eine kleine Dampfschiffähre, die ihn auf verschlungenem Kurs durch eine beeindruckende Ansammlung von Schiffen und Kähnen auf die andere Seite, zum eigentlichen Hafenviertel, brachte, einer wild wuchernden Siedlung aus Wohnbauten und Geschäftshäusern, die beruhigend nach verfaulendem Fisch, Bilgenwasser und geteertem Seil roch wie jeder schottische Hafen auch. Er war hochgewachsen und breit, größer als die meisten. Das Gehen fiel ihm schwer, als er sich auf der krummen Kopfsteinpflasterstraße, die vom Wasser wegführte, in Bewegung setzte, denn die Seereise steckte ihm noch in den Knochen. Auf der linken Schulter trug er einen schweren Schiffskoffer, und unter seinem rechten Arm klemmte, als habe er eine Frau um die Taille gefasst, ein großes Saiteninstrument. Er sog Amerika mit jeder Pore ein. Schmale Straßen, kaum breit genug für Karren und Kutschen, die meisten Gebäude aus Holz oder aus sehr roten Ziegeln, die Geschäfte voller Waren, über den Türen farbenfrohe Schilder mit vergoldeten Buchstaben. Er bemühte sich, die Frauen, die aus den Geschäften kamen, nicht anzustarren, obwohl er wie betrunken war vor Sehnsucht nach dem Geruch einer Frau. Er spähte kurz in ein Hotel, das American House, doch die Lüster und die Perserteppiche schüchterten ihn ein, und er wusste, dass die Preise zu hoch für ihn waren. In einem billigen Lokal aß er eine Tasse Fischsuppe und fragte zwei Kellner, ob sie ihm eine billige, aber saubere Pension empfehlen könnten.
    »Da musst du dich schon entscheiden, Junge, entweder das eine oder das andere«, sagte der eine. Doch der andere schüttelte den Kopf und schickte ihn zu Mrs. Burton in der Spring Lane. Das einzig freie Quartier war eine ehemalige Dienstbotenkammer auf dem Dachboden neben den Zimmern des Knechts und des Dienstmädchens. Es war nicht nur winzig, sondern man musste auch drei Stockwerke hochsteigen, und da es direkt unter den Dachsparren lag, war es im Sommer mit Sicherheit heiß und im Winter kalt. Es gab lediglich ein schmales Bett, einen kleinen Tisch mit einer angeschlagenen Waschschüssel und einen weißen Nachttopf hinter einem mit blauer Blumenstickerei verzierten Leinentuch. Mit Frühstück - Porridge, Kekse und ein Hühnerei - koste das Zimmer einen Dollar fünfzig Cent die Woche, erklärte ihm Louise Burton. Sie war eine farblose Witwe Mitte der Sechzig mit unverblümt neugierigem Blick. »Was haben Sie da unterm Arm?« »Man nennt es eine Gambe.«
    »Verdienen Sie Ihren Lebensunterhalt als Musiker?«
    »Ich spiel’ nur zum Vergnügen. Meinen Lebensunterhalt verdiene ich als Arzt.«
    Sie nickte skeptisch. Dann verlangte sie eine Vorauszahlung und nannte ihm ein Wirtshaus in der Nähe der Beacon Street, wo er für einen weiteren Dollar pro Woche sein Abendessen bekommen könne. Sobald sie gegangen war, fiel er ins Bett. Den ganzen Nachmittag und den Abend schlief er traumlos, nur das Stampfen und Rollen des Schiffs glaubte er gelegentlich noch zu spüren, und am nächsten Morgen erwachte er wieder frisch und jung. Beim Frühstück saß er neben

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