Medicus von Konstantinopel
Konstantinopel an. Gleichmäßig tauchten die Ruderblätter in das dunkle Wasser. Nebelschwaden hingen in diesen letzten dunklen Stunden der Nacht über dem Wasser und quollen unheimlich wie ein Sinnbild des bösen Hauchs die Uferböschungen empor und hüllten die Schutzmauern ein. Die Lichter von Laternen waren nur als helle, verwaschene Flecke zu sehen.
Maria saß am Bug und blickte der Einfahrt zu diesem größten Hafen Konstantinopels entgegen. Unter Justinian oder Basileios II. war Eutherios der größte Handelshafen der Welt gewesen, doch auf diesen Glanz war ein immer größerer Schatten gefallen. Dass Konstantinopel so viel häufiger als andere Städte von der Pest heimgesucht wurde, war dabei nur einer der Gründe. Ein noch entscheidenderer Umstand war wohl die militärisch zunehmend verzweifelte Lage, in der sich das – bis auf wenige kleine Landgebiete in unmittelbarer Nähe der Stadt und einige Exklaven auf dem Peloponnes sowie ein paar griechische Inseln – geschrumpfte Imperium befand. Eines konnte allerdings niemand der Stadt nehmen: ihre Lage am Eingang zum Bosporus. Der Schiffsverkehr zu den Ländern am Pontischen Meer hatte deshalb nichts an Bedeutung verloren. Allerdings war Konstantinopel weit davon entfernt, den Schiffsverkehr dorthin noch allein kontrollieren zu können: Den größten Teil dieser Meerenge nannte längst der osmanische Sultan sein Eigen, sämtliche Besitzungen am asiatischen Ufer hatte der Kaiser schon vor Jahren verloren.
Maria dachte darüber nach, ob es unter diesen Umständen nicht doch das Beste wäre, der Stadt sehr bald den Rücken zu kehren. Seit Generationen waren die di Lorenzos hier in Konstantinopel ansässig. Vor fast zwei Jahrhunderten hatten Genueser dabei geholfen, die Stadt zurückzuerobern, und Niccolò Andrea di Lorenzo, ein Vorfahre Marias, hatte sich mit seinem Schwert und seinem Geld an diesem Unternehmen beteiligt und war dafür reich belohnt worden. Das war die Grundlage für den Reichtum der Familie und den Aufbau des Geschäfts gewesen. Die Privilegien, die man Niccolò Andrea gewährte, hatten das Handelshaus schnell wachsen lassen. Jede Generation hatte ihren Beitrag dazu geleistet, seinen Reichtum und seinen Einfluss zu mehren. Genua, die alte Heimat, blieb der wichtigste Herkunftsort der Waren, mit denen das Haus di Lorenzo handelte. Maria und Marco hatten beide etliche Jahre bei Genueser Verwandten verbracht und dort den Unterricht von Hausgelehrten genossen. Aber als ihre eigentliche Heimat hatte Maria immer die Straßen von Pera empfunden und jenes Haus, das jetzt nur noch eine rauchende Ruine war.
Marco saß in der Mitte der Barkasse. Er wirkte ganz in sich versunken und blickte starr ins Nichts. Seitdem die Barkasse sie beide am Galata-Turm an Bord genommen und mit ihnen die Altstadt umfahren hatte, war er vollkommen schweigsam gewesen. Finster brütete er vor sich hin und schien die neue Situation einfach nicht annehmen zu können.
An und für sich hätte Marco die Führung des Handelshauses übernehmen sollen. Maria klangen noch gut die Worte ihres Vaters im Ohr, die sein Bedauern darüber widerspiegelten, dass Marco sich nie mit jener Intensität für das Geschäft interessiert hatte, die sein Vater sich gewünscht hätte. Oft genug war deswegen Streit zwischen den beiden aufgeflammt. Schlussendlich hatte sich dann wohl die Erkenntnis durchgesetzt, dass Marco di Lorenzos aufbrausende, zur Unberechenbarkeit neigende Art die Zukunft des Handelshauses gefährdete. Nicht zuletzt deswegen war im Testament die alleinige Verfügungsgewalt nicht auf ihn übertragen worden. Marco sah darin eine nachträgliche Bestrafung dafür, dass er oft so unbotmäßig gewesen war, während sein Vater nichts anderes als die Bewahrung dessen im Sinn gehabt hatte, was mehrere Generationen der di Lorenzos mit Schweiß und Blut aufgebaut hatten. Dass der Handelsherr seinen letzten Willen bereits zu Lebzeiten und in bester Gesundheit öffentlich gemacht hatte, musste Marco als zusätzliche Schmähung empfinden. Nach Marias Eindruck war es dadurch zum endgültigen und nicht wiedergutzumachenden innerlichen Bruch zwischen Vater und Sohn gekommen.
Was jetzt werden würde, war nicht gewiss.
Fest stand nur, dass Maria und ihr Bruder zu gleichen Teilen das Vermögen und die Besitztümer ihrer Eltern geerbt hatten und dass es deren sehnlichster Wunsch gewesen wäre, wenn sich auch in dieser nächsten Generation dieser Besitz erhalten und mehren würde, sodass er
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