Medicus von Konstantinopel
gegenüber Bediensteten nach dem Tod der Eltern wohl vollkommen ungehemmt zum Vorschein kommen würde, sodass jeder, der für das Haus di Lorenzo arbeitete, schwierige Zeiten zu erwarten hatte.
Davide führte die beiden Geschwister zum Wagen. Sie stiegen auf, und der Kutscher trieb die Pferde voran. In halsbrecherischer Geschwindigkeit jagte der Wagen durch die Gassen und erreichte wenig später die Mese, jene große Ost-West-Straße in Konstantinopel, die vom Goldenen Tor am Südende der Theodosianischen Mauer über das Forum Tauri und vorbei am ehemaligen Hippodrom führte, das inzwischen zu einem unkrautüberwachsenen Ruinenfeld und Steinbruch verkommen war. Die Mese endete schließlich vor dem Kaiserpalast.
Der Wagen nahm die Mese in westlicher Richtung, während im Osten, jenseits der unübersehbaren großen Kuppelbauten, das verwaschene Licht des neuen Tages im Nebeldunst heraufdämmerte.
»Ich habe die Gästeräume des Kontors herrichten lassen. Dort werdet Ihr bis auf Weiteres wohnen«, erklärte Davide in der ihm eigenen, ruhigen Art.
»Habt Dank, Davide«, sagte Maria. »Wir wüssten nicht, was wir ohne Euch tun sollten!«
»Ich habe Eurem Vater und sogar noch Eurem Großvater treu gedient«, erklärte Davide. »Und es ist für mich eine Selbstverständlichkeit, jetzt dazu beizutragen, dass das Handelshaus di Lorenzo diesen schwersten Schlag seiner Geschichte überlebt … Es geht um die Zukunft, Maria!«
Ein mattes, schwaches Lächeln glitt über Marias Gesicht. »Das sind auch die letzten Worte, die Vater zu uns sagte, kurz bevor das Leben ihn verließ.«
»So sollten wir alles tun, um sein Vermächtnis zu bewahren! Euer Vater hat mir dazu die Vollmachten über seinen Tod hinaus gegeben.«
Davide entstammte einer traditionsreichen levantinischen Familie von arabischen Christen, die ursprünglich in Alexandria ansässig gewesen war. Für das Haus di Lorenzo war er seit langem als Schreiber und Prokurist beschäftigt.
Sein eigentlicher arabischer Name, unter dem er geboren worden war, lautete Daoud al-Khatib – »David der Schreiber«. Gegenüber den Genuesern und Venezianern in Konstantinopel nannte er sich hingegen Davide Scrittore, während er unter der griechischsprachigen Mehrheit Konstantinopels seinen Namen in David Syngraféas übersetzte.
Für Maria war er von klein auf einfach nur »Davide« gewesen – ein Mann, der mehr als nur ein treuer Freund des Hauses war. Abgesehen von ihren Eltern vertraute sie allenfalls noch Pater Matteo da Creto auf ähnliche Weise. Und was die Zukunft des Hauses di Lorenzo anging, würden dessen Erben auf die Hilfe und den Beistand des Levantiners mehr denn je angewiesen sein.
»Ein Arzt wird Euch beide gleich nach Eurer Ankunft eingehend untersuchen«, erklärte Davide.
»Ein Arzt?«, echote Maria, und in ihrem Tonfall schwang durchaus mit, dass ihr diese Aussicht nicht übermäßig behagte. Wie hilflos hatte sie doch schon allzu oft die Ärzteschaft im Angesicht dieser furchtbaren Krankheit gesehen. Dem Vernehmen nach kannte nicht einmal die fortgeschrittene Medizin der Araber ein Heilmittel gegen die Pest. Und vielleicht gab es das auch gar nicht. Vielleicht hatten ja alle diejenigen Recht, die in dieser Seuche eine Geißel Gottes sahen, der man nur durch Frömmigkeit und ein gottgefälliges Leben, aber nicht durch Heilgetränke von beißendem Duft entgehen konnte – deren Dämpfe nur in den Augen brannten, das Übel jedoch nicht aus den Körpern herauszubrennen vermochten.
»Es handelt sich um den fähigsten Pestarzt der ganzen Christenheit. Angeblich hat sogar der große Paracelsus von ihm gelernt, und er soll die polnische Stadt Warschau mit seinen Maßnahmen vor einer drohenden Pestepidemie bewahrt haben. Der Doge von Venedig soll ihn angeblich als Berater zu halten versucht haben, gleichwohl waren nicht einmal die gut gefüllten Schatzkammern Venedigs ausreichend, um diesen außergewöhnlichen Mann weiter bezahlen zu können!«
»Wenn er Reichtum sucht – was will er dann in dem elend heruntergekommenen Konstantinopel?«, fragte Maria. »Und in wessen Diensten steht er hier, wenn schon der Doge ihn nicht zu bezahlen vermag?«
Davide lächelte nachsichtig und stieß ein Stoßgebet in arabischer Sprache aus. Diese Angewohnheit war ihm eigen, solange Maria sich zurückerinnern konnte, und gewiss hatte man ihn deshalb mehr als einmal verdächtigt, ein Anhänger des Propheten Mohammed zu sein, obwohl er in Wahrheit ein tiefgläubiger Christ war,
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