Meerjungfrau
versunken, dass ihm entgangen war, was Gösta zu ihm gesagt hatte.
»Ich sagte: Vielleicht möchtest du den Anfang machen?«
Martin starrte Gösta verwundert an. Konnte er Gedanken lesen? Dann packte er die Gelegenheit beim Schopf:
»Beschreiben Sie uns mit Ihren eigenen Worten, was passiert ist.«
Kenneth wollte nach einem Becher Wasser greifen, der auf dem Nachttisch neben dem Bett stand, konnte jedoch seine Hände nicht benutzen.
»Warten Sie, ich mache das schon.« Martin hielt ihm den Becher hin und steckte ihm einen Strohhalm in den Mund. Dann lehnte sich Kenneth zurück und berichtete ruhig und sachlich, was sich ereignet hatte, nachdem er seine Joggingschuhe geschnürt hatte, um wie jeden Morgen eine Stunde zu laufen.
»Wie spät war es, als Sie das Haus verlieÃen?« Martin hielt Block und Stift bereit.
»Viertel vor sieben«, antwortete Kenneth, und Martin schrieb, ohne zu zögern, die Uhrzeit auf. Sein Eindruck war, dass es tatsächlich genau Viertel vor sieben gewesen war, wenn Kenneth das behauptete. Und zwar auf die Minute.
»Laufen Sie jeden Morgen um dieselbe Zeit?« Gösta verschränkte die Arme vor der Brust.
»Manchmal auch zehn Minuten früher oder später.«
»In Anbetracht der Tatsache ⦠haben Sie nicht in Erwägung gezogen â¦Â« Martin kam ins Stocken.
»In Anbetracht der Tatsache, dass einen Tag zuvor Ihre Ehefrau verstorben war, haben Sie nicht in Erwägung gezogen, die Laufrunde ausfallen zu lassen?«, kam Gösta ihm ohne unfreundlichen oder vorwurfsvollen Unterton zu Hilfe.
Kenneth gab nicht sofort eine Antwort. Er schluckte und sagte dann leise:
»Wenn ich das Laufen je gebraucht habe, dann an diesem Morgen.«
»Ich verstehe«, erwiderte Gösta. »Laufen Sie immer dieselbe Strecke?«
»Ja, auÃer an den Wochenenden, da laufe ich manchmal zwei Runden. Wahrscheinlich bin ich kein besonders flexibler Mensch. Ãberraschungen, Abenteuer und Veränderungen mag ich nicht.« Er verstummte. Gösta und Martin wussten genau, woran er jetzt dachte, und schwiegen ebenfalls.
Kenneth räusperte sich und drehte den Kopf zur Seite, damit sie seine Tränen nicht sahen. Nach einem weiteren Hüsteln brachte er dann heraus:
»Wie gesagt, ich mag feste Gewohnheiten. Diese Runde laufe ich seit zehn Jahren.«
»Ich nehme an, dass viele Menschen das wissen.« Nachdem er »zehn Jahre« aufgeschrieben und die Notiz eingekreist hatte, blickte Martin auf.
»Es hat nie einen Grund gegeben, es geheim zu halten.« Das Lächeln auf seinem Gesicht verlosch genauso schnell, wie es aufgeblitzt war.
»Sie sind heute Morgen niemandem begegnet?«, fragte Gösta.
»Keiner Menschenseele. Das passiert ohnehin selten. Hin und wieder begegne ich einem Frühaufsteher, der schon mit dem Hund drauÃen ist, oder Eltern mit Kinderwagen. Aber es passiert nicht oft. Meistens bin ich ganz allein auf diesem Weg. So wie heute Morgen.«
»Sie haben kein Auto gesehen, das in der Nähe parkte?« Für die Frage erntete Martin einen anerkennenden Blick von Gösta.
Kenneth überlegte eine Weile. »Ich glaube nicht. Genau kann ich es natürlich nicht sagen, vielleicht hat da ein Wagen gestanden, den ich nicht bemerkt habe. Doch wenn ich es mir überlege, hätte ich den sehen müssen.«
»Also nichts Ungewöhnliches?«, insistierte Gösta.
»Es war genau wie immer. Abgesehen â¦Â« Das Wort blieb in der Luft hängen, und die Tränen begannen wieder zu flieÃen.
Martin schämte sich, weil es ihm so peinlich war, Kenneth weinen zu sehen. Unsicher fragte er sich, ob er etwas tun sollte. Gösta dagegen beugte sich ganz ruhig über Kenneth, nahm eine Papierserviette vom Nachttisch und trocknete ihm behutsam die Tränen ab. Dann streckte er den Arm noch einmal über das Bett und legte die Serviette zurück.
»Wissen Sie schon etwas?«, flüsterte Kenneth. »Ãber Lisbet?«
»Nein, dafür ist es noch viel zu früh. Es kann eine Weile dauern, bis wir etwas vom Gerichtsmediziner hören«, sagte Martin.
»Sie hat sie umgebracht.« Der Mann im Bett sank in sich zusammen. Er starrte ins Leere.
»Entschuldigung, was haben Sie gesagt?« Gösta lehnte sich nach vorn. »Wer ist âºsieâ¹? Wissen Sie, wer Ihnen und Ihrer Frau das angetan hat?« Martin hörte, dass Gösta den Atem anhielt,
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