Mehr als nur ein halbes Leben
bin und nicht von den Geräuschen eines meiner drei Kinder. Und die Schlummertaste ist eine sogar noch fernere Erinnerung. Das morgendliche Verhandeln um eine kurze, aber luxuriöse verlängerte Auszeit im Bett. Nur noch neun Minuten, dafür werde ich mir die Beine nicht rasieren. Noch neun Minuten, dafür werde ich das Frühstück ausfallen lassen. Noch neun Minuten, den morgendlichen Sex. Auf diesen Knopf habe ich schon lange, lange Zeit nicht mehr gedrückt. Na ja, Charlie ist sieben, das heißt, es muss ungefähr sieben Jahre her sein. Es kommt mir vor wie eine Ewigkeit. Heutzutage stelle ich den Wecker abends nur noch, weil ich weiß, weil ich einfach weiß, dass das eine Mal, an dem ich es nicht tue, das eine Mal, wenn ich beschließe, mich darauf zu verlassen, dass meine kleinen Engel mich wecken werden, der Morgen sein wird, an dem ich irgendeinen wichtigen Termin oder einen Flug habe, den ich nicht verpassen darf, und genau dann werden sie alle zum ersten Mal lange schlafen.
Ich stehe da und sehe auf Bob hinunter, der ausgestreckt auf dem Rücken liegt, mit geschlossenen Augen, schlaffem Gesicht und offenem Mund.
»Beuteltierchen«, sage ich.
»Ich bin wach«, antwortet er, die Augen noch immer geschlossen. »Er ruft dich.«
»Er sagt ›Baba‹, nicht ›Mama‹.«
»Soll ich ihn holen?«
»Ich bin schon auf.«
Ich schlurfe barfuß über den kalten Hartholzboden den Flur hinunter zu Linus’ Zimmer. Als ich die Tür öffne, sehe ich ihn an den Stäben seines Gitterbettchens stehen, an seinem Schnuller nuckelnd, eine zerschlissene Decke in einer Hand, seinen geliebten und noch zerschlisseneren Bunny in der anderen. Er lächelt über das ganze Gesicht, als er mich sieht, sodass ich auch lächeln muss, und beginnt, gegen das Gitter zu hämmern. Er sieht aus wie ein entzückender Baby-Häftling an seinem letzten Tag im Gefängnis, der fertig gepackt hat, bereit ist und nun auf seine Freilassung wartet.
Ich nehme ihn hoch und trage ihn hinüber zum Wickeltisch, wo seine gute Laune augenblicklich zu einem Wimmern umschlägt. Er krümmt den Rücken und rollt sich auf die Seite, sträubt sich mit allem, was er hat, gegen das, was jeden Tag fünf- oder sechsmal mit ihm geschieht. Ich werde nie verstehen, wieso er es so abgrundtief hasst, sich die Windeln wechseln zu lassen.
»Linus, hör auf damit!«
Ich muss ein Übermaß an Kraft aufbieten, um ihn auf dem Wickeltisch festzuhalten und gleichzeitig in eine frische Windel und Kleider zu zwängen. Ich versuche es mit ein paar Bauchküssen und singe Leuchte, leuchte, kleiner Stern , um ihn wieder fröhlich zu stimmen, aber er bleibt während des ganzen Vorgangs ein störrischer Gegner. Der Wickeltisch steht neben dem einzigen Fenster in seinem Zimmer, was manchmal hilfreich ist, um ihn abzulenken. Sieh mal das kleine Vögelchen! Aber draußen ist es noch dunkel, und nicht einmal die Vögel sind schon wach. Es ist noch Nacht, mein Gott.
Linus schläft nachts nicht durch. Gestern Nacht habe ich ihn wieder in den Schlaf gewiegt, nachdem er um 1.00 Uhr schreiend aufgewacht war, und Bob ging um kurz nach 3.00 Uhr zu ihm. Mit seinen neun Monaten spricht Linus noch nicht, nur Baba-Mama-Dada-Gebrabbel. Daher können wir ihn nicht fragen, was das Problem ist, und wir können auch nicht vernünftig mit ihm reden oder ihn bestechen. Jede Nacht ist es ein Ratespiel, auf das Bob und ich keine große Lust haben, und wir gewinnen nie.
Meinst du, er zahnt? Sollten wir ihm Tylenol geben? Wir können ihn doch nicht jeden Abend mit Medikamenten vollpumpen. Vielleicht hat er eine Entzündung im Ohr. Vorhin habe ich gesehen, wie er sich am Ohr gezogen hat. Er zieht sich doch ständig am Ohr. Hat er seinen Schnuller verloren? Vielleicht hat er schlecht geträumt. Vielleicht ist es das Alleinsein. Sollen wir ihn zu uns ins Bett holen? Das wollen wir eigentlich gar nicht erst einführen, oder? Was haben wir denn bei den anderen beiden gemacht? Ich kann mich nicht mehr erinnern.
Motiviert von entnervter Erschöpfung, beschließen wir hin und wieder, ihn einfach zu ignorieren. Heute Nacht werden wir ihn weinen lassen, bis er aufhört. Aber der kleine Linus hat eine bemerkenswerte Ausdauer und Lungen, die nie aufgeben. Wenn er sich etwas erst einmal in den Kopf gesetzt hat, gibt er hundert Prozent – ein Charakterzug, der ihm, denke ich, im Leben sehr zugutekommen wird, daher bin ich nicht völlig überzeugt davon, dass wir ihm das mit Gewalt abgewöhnen sollten. Im Allgemeinen
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