Mehr als nur Traeume
du das endlich? Ich bin ein ganz gewöhnlicher, normaler Mensch, der in außerordentlich ungewöhnliche Umstände verstrickt ist.« Sie drehte sich ihm wieder zu. »Ich weiß nicht alles, was passierte, als Kit starb. Du erzähltest mir damals, du hättest dich im Schwertkampf geübt, dir dabei den Arm aufgeschnitten und nicht mit ihm ausreiten können. Er sah ein Mädchen in einem See und stellte diesem nach. Er ertrank. Das ist alles, was mir bekannt ist.« Abgesehen davon, daß Lettice vermutlich an Kits Tod schuld war, dachte Dougless bei sich, sagte das aber nicht laut.
Er starrte sie mit feindseligen Augen an.
Sie fuhr in sanfterem Ton fort: »Als du zu mir kamst, wollte ich dir ebenfalls nicht glauben. Du hast mir einige Dinge erzählt, die nicht in unseren Geschichtsbüchern standen, aber ich glaubte dir nicht. Und da nahmst du mich schließlich mit nach Bellwood und zeigtest mir eine Geheimtür in der Wand, hinter der ein Kästchen aus Elfenbein versteckt war. Keiner von den Besitzern, die in den vierhundert Jahren seither das Haus bewohnten, hatte dieses Geheimfach entdeckt. Du erzähltest mir, Kit habe dir das Geheimfach eine Woche vor seinem Tod gezeigt.« Der Gedanke, daß Kit sterben könne, gefiel ihr ganz und gar nicht.
Nicholas sah sie nun mit offenem Mund an. Sie war eine Hexe; denn Kit hatte ihm erst Ende letzter Woche das Wandversteck in Bellwood gezeigt. Was hatte sie nur mit Kit angestellt, daß er ihr dieses Geheimfach verraten hatte, das eigentlich ein Familiengeheimnis bleiben sollte?
Überhaupt schien diese Frau einen unheimlichen Einfluß auf die ganze Familie und den Haushalt zu haben. Erst gestern hatte er einen Stallknecht irgendein blödsinniges Lied singen hören, das »Zippity Doo-Dah« hieß. Drei von den Kammerfrauen seiner Mutter beschmierten sich die Augenlider mit Farbe, die sie, wie sie sagten, von »Lady« Dougless bekommen hatten. Seine Mutter - seine nüchtern denkende, blitzgescheite, weise Mutter - hatte mit dem Vertrauen eines Kindes Medizin von dieser Hexe eingenommen. Kit betrachtete diese rothaarige Dirne mit den hungrigen Augen eines Raubvogels.
In den wenigen Tagen, die sie nun im Haushalt der Staffords weilte, hatte sie alles verändert. Ihre Lieder, ihre unverschämten Tänze, die Geschichten, die sie erzählte (seit kurzem sprach das Burgvolk nur noch den ganzen Tag von Leuten, die Scarlett und Rhett hießen), selbst die Art, wie sie sich das Gesicht bemalte, übten eine mächtige Wirkung auf jeden aus. Sie war eine Zauberin, und sie zog nach und nach alle, die in diesem Haus wohnten, in ihren Bann.
Nicholas war die einzige Person in diesem Haushalt, die wenigstens den Versuch machte, ihr zu widerstehen. Als er sich bemühte, Kit auf die Macht aufmerksam zu machen, die diese Frau in diesem Haus über die Leute gewann, hatte Kit nur gelacht. »Meinst du wirklich, daß ein paar neue Lieder und Geschichten uns schaden könnten?« hatte Kit gesagt.
Nicholas wußte nicht, was diese Frau wirklich wollte; aber er war entschlossen, ihrem Zauber nicht so leicht zu erliegen wie all die anderen. Er hatte sich vorgenommen, ihr Widerstand zu leisten - und wenn ihm das noch so schwerfallen sollte.
Und als er nun so vor ihr stand und sie wütend anfunkelte, wußte er, wie sauer ihn das ankam. Ihre kastanienroten Haare flossen ihr über die Schultern, und sie hielt die kleine Perlenkappe in der Hand. Er hatte noch keine schönere Frau in seinem Leben gesehen als sie. Lettice mochte vielleicht noch ebenmäßigere Züge haben; aber diese Frau, diese Dougless, die ihn so in Rage brachte, hatte etwas mehr - etwas, das er nicht zu deuten wußte.
Vom ersten Moment an, als er sie sah, hatte er das Gefühl gehabt, daß sie irgendeine geheime Macht über ihn hatte. Es gefiel ihm, wenn er Macht über Frauen besaß, wenn sie unter seinen Küssen schwach wurden und dahinschmolzen. Es gefiel ihm, den Widerstand schwieriger Frauen zu brechen, und er genoß auch das Gefühl der Macht, das er empfand, wenn er sie wieder verließ.
Doch von der ersten Sekunde an war es mit dieser Frau anders gewesen. Er beobachtete sie weitaus öfter als sie ihn. Er spürte sofort, wenn sie Kit ansah oder einem gutaussehenden Diener einen Blick nachschickte, spürte sogar, wenn sie lächelte oder lachte. Gestern nacht in seinem Zimmer war dieses Bewußtsein fast zu einem Schmerz geworden, und diese Erkenntnis von ihrer Macht hatte ihn so wütend gemacht, daß er kaum noch zusammenhängend sprechen oder
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