Mein Erzengel (German Edition)
machte auch in Amsterdam mit ihrer Schmuckproduktion schon bald gutes Geld, doch sich von ihr aushalten zu lassen, wie es ihm ein Künstlerfreund empfahl und wie Ruth das gern getan hätte, lehnte er ab. Nur in diesem Punkt war er nicht bereit, das vorherrschende Geschlechterverhältnis umzukehren.
Ansonsten hat er Ruth zur Herrin gemacht, sich selbst zum Knecht. Verrat am Patriarchat, nennt er das. Einen Knecht zu haben, fand Ruth anfangs so übel nicht, doch mit der Zeit wurde es ihr doch auch unheimlich. Wird er ihr das nicht eines Tages heimzahlen? Kann sich ein selbstbewusster Mann wie Michaël auf die Dauer einer Frau unterwerfen, ohne Schaden zu nehmen? Wird sich in ihm nicht ein ungeheures Maß an Wut ansammeln? Diese Dinge gingen ihr bisweilen durch den Kopf, doch es waren Gedanken, die sie rasch wieder verscheuchte.
3
Es ist März geworden. Die Pollen machen Ruth schon seit einiger Zeit zu schaffen. Wo sich Michaël die meiste Zeit aufhält, wird es noch wärmer sein. Sie sehen einander nur noch selten. Immer länger werden seine Abwesenheiten, immer rarer die Wochenenden zu Hause. Sein Blick ist versteinert, die Augen sind wieder gerötet wie beim ersten Mal. Längst kann Ruth nicht mehr in seinem Gesicht lesen. Sie quält sich mit der immer gleichen Frage, was wohl zwischen ihnen falsch gelaufen ist, an welchem Punkt Michaël angefangen hat, des Zusammenlebens mit ihr überdrüssig zu werden. Hätte sie seine täglichen Dienstleistungen weniger selbstverständlich annehmen müssen? Als sie sich einmal überrascht zeigte, weil das Frühstück eines Morgens ausnahmsweise nicht auf dem Tisch stand, blaffte er sie an. Er sei dazu keineswegs verpflichtet, das solle sie sich gefälligst merken. Ist es das? Hat sie angefangen, ihn respektlos zu behandeln? Hat sie ihn allzu deutlich spüren lassen, dass sein wachsender Körperumfang sie stört? Ungerecht ist es allemal, denn auch sie wird allmählich dicker, die satte Zufriedenheit des Ehelebens macht träge. Vielleicht hat er aber auch begonnen, ihr Alter zu spüren, das schwabbelig werdende Fleisch an Oberarmen und Schenkeln. Sie hätte sich in ein Fitnesscenter einschreiben sollen. Einmal bat er sie, sich die Härchen an Kinn und Oberlippe nicht in seiner Anwesenheit auszuzupfen, das erinnere ihn an seine Mutter. Vielleicht ekelt er sich vor ihr genauso wie sie sich bisweilen vor ihm. Wenn man den anderen nicht mehr berührt, entsteht eine Fremdheit, die unvereinbar ist mit der räumlichen Nähe des Alltags.
Michaël bringt die Flüchtlinge nicht mehr persönlich in die Niederlande, er hat Helfer gefunden, die sie begleiten. Auch Ruth ist einmal mitgefahren. Während der Fahrt herrschte heitere Stimmung im Bus, es wurde gegessen, getrunken, gesungen. An den Grenzen dann Grabesstille. Während die diversen Grenz- und Zollbeamten die von ihr eingesammelten nagelneuen Pässe mit argwöhnischer Langsamkeit durchblätterten, hielten die Flüchtlinge den Atem an, verkrampften die Hände ineinander. Kaum waren sie auf der anderen Seite, setzte das erleichterte Geschnatter wieder ein. Reflexartig musste Ruth an ihre Mutter denken, die 1938 im Zug die dänischen Putzfrauen umarmte, nachdem sie deutsches Territorium verlassen hatten.
Schon sind es Hunderte Flüchtlinge, die auf diese Weise in Sicherheit gebracht wurden. Die Kunde vom Helfer aus den Niederlanden geht von Mund zu Mund, von Ort zu Ort. Die Liste der Ausreisewilligen wird immer länger. Ist ein Autobus voll besetzt und abreisebereit, kann Michaël sich ein Wochenende zu Hause genehmigen. Ruth wäscht ihm dann die Wäsche, kocht etwas Besonderes, ein einziges Mal hat sie ihm auch die Hemden gebügelt, sie wird das bestimmt nicht noch einmal machen. «Hast du nichts Besseres zu tun?», fauchte er wütend. Er will nicht begreifen, dass sie mit diesen hilflosen weiblichen Handreichungen versucht, ihm näherzukommen. Wenigstens versorgen will sie seinen Körper, wenn sie auch schon längst nicht mehr wagt, ihn anzufassen.
Ruth macht sich zurecht und holt Michaël mit dem Auto vom Flughafen ab. Eine halbherzige Umarmung, flüchtig begegnen sich ihre Blicke, und schon sitzen sie im Wagen und starren auf die Autobahn. Dann steht er wie ein Fremdkörper in der Wohnung, irgendwie zu groß für die niedrigen Räume. Auch Ruth fühlt sich wie eine, die auf einer Gesellschaft nicht weiß, was sie mit ihren Händen anfangen soll. Sie hat sich daran gewöhnt, in ihrer gemeinsamen Wohnung allein zu sein. Unbeholfen
Weitere Kostenlose Bücher