Mein Erzengel (German Edition)
Michaël trommelte mit den Fingern auf der Marmorplatte. Stille konnten sie nicht ertragen. Als die Kellnerin des dritten Kaffeehauses mürrisch die Stühle auf die Tische stellte, sahen sie einander ratlos an. Sich in diesem Augenblick zu trennen, erschien ihnen unmöglich. Da lud er sie in seine bescheidene Wohnung ein. Ein Schreibtisch, zwei Stühle, ein Schrank vom Trödel, die Dielen frisch abgezogen. Das Schlafzimmer gerade groß genug für die Matratze auf dem Fußboden.
Wie abzusehen war, verbrachten sie die Nacht zusammen. Ihre Handtasche zu nehmen und irgendwann dann doch noch zu gehen, wie sie eigentlich vorgehabt hatte, wäre ein Kraftakt gewesen. Gelähmt von einer unerklärlichen Schwere saß sie fest. Er spielte ihr ein Musikstück eines befreundeten Komponisten vor, das sich ihr ins Fleisch bohrte und ihre Nerven flattern ließ. Es waren Klänge, wie sie ihr noch nie zuvor begegnet waren, obwohl ihre Mutter sie als Jugendliche häufig in Konzerte Neuer Musik mitgenommen hatte. Ein Blubbern und Stöhnen, schweres Atmen, das endlose Knarren einer Tür, Maschinen in einer leeren Fabrikhalle, Röcheln, die menschlichen Stimmen elektronisch verzerrt. Sie war verwirrt, wusste nicht, was sie davon halten sollte, tauchte ein in eine beunruhigend fremde Welt.
Schon einen Monat später zog Michaël zu Ruth in ihre große Wohnung, die einmal eine WG gewesen war. Des spannungsreichen Lebens zu viert überdrüssig, hatte sie, die Hauptmieterin war, ungeduldig auf den Auszug aller gewartet und seither dort alleine auf über hundert Quadratmetern gelebt. Ihre verschiedenen Liebhaber waren bloß vorübergehende Gäste gewesen. Bald nach Michaëls Einzug heirateten sie und zogen einige Zeit später auf seinen Wunsch nach Amsterdam. In einem fremden Land ein neues Leben zu beginnen, passte Ruth gut ins Konzept. Sie war immer viel gereist und hatte keine Scheu vor Neuanfängen, schon gar nicht an der Seite eines geliebten Mannes.
Außerdem war sie in ihrem Leben an einem Wendepunkt angelangt. Eine gescheiterte Kandidatur bei den österreichischen Grünen hatte ihren politischen Ambitionen ein Ende gesetzt, und der aufgeheizte Wahlkampf des international geächteten Kurt Waldheim für das Amt des Bundespräsidenten veranlasste viele Österreicher, längst überwunden geglaubte antisemitische Ressentiments hervorzukramen. Mit gelben Plakaten und dem Spruch «Jetzt erst recht!» warb die Österreichische Volkspartei für ihren Kandidaten, der als Offizier in Saloniki von der Deportation Zehntausender Juden in die Vernichtungslager Auschwitz und Treblinka ebenso Kenntnis gehabt haben musste wie von Massakern an jugoslawischen Partisanen in Westbosnien. Die Debatten auf den Straßen Wiens überschlugen sich. Ruths jüdische Mutter warf sich Sonntag für Sonntag vor dem Stephansdom in die Wortschlacht, ihr selbst fehlte der Mut. Mit Sexismus hatte sie umzugehen gelernt, mit Antisemitismus nicht. Er löst auch bei den Kindern und Enkeln von Schoa-Überlebenden Todesängste aus. Ruth hatte die Nase voll von Österreich.
Im freundlichen Amsterdam konnte sie aufatmen, und ihre Ehe mit Michaël war eine einzige Idylle. Ruth fühlte sich aufgehoben wie in einer gut gepolsterten Wiege. Er gab ihr die Zuneigung, die sie ihr Leben lang vermisst hatte, weder die Eltern noch ihre zahlreichen Männer hatten sie je verwöhnt wie er. In ihrer kleinen Mansardenwohnung lebten sie abgeschieden vom Rest der Welt, es fehlte ihnen niemand. Waren sie unter Menschen, genügte ein Blick zwischen ihnen. Wenn seine Augen sich röteten, wusste sie, dass ihn etwas kränkte. Er war empfindsam wie kein anderer zuvor, litt unter Geräuschen, die sie gar nicht hörte, ahnte wie ein Tier Situationen voraus, die erst später eintraten. Wenn sie sich für kurze Zeit trennen mussten, klopfte sein Herz bei der ersten Umarmung am Bahnhof wie das eines verletzten Vogels. An seiner Seite einzuschlafen war jede Nacht von neuem ein Geschenk.
Ruth war angekommen.
1
Das kleine Amsterdamer Wohnzimmer ist zum Bersten voll an diesem Winterabend. Zwei Frauen, drei Männer, ein Kind, vor kurzem mit Michaëls Hilfe ins rettende Ausland gelangt, warten auf ihre Nachbarn aus der Heimat, die heute Abend eintreffen sollen. Sie sitzen auf der Couch und auf dem Teppich. Eine schöne, stark geschminkte Frau um die dreißig lacht. Ihr fehlen mehrere Vorderzähne. Der Raum mit der Dachschräge ist vollgequalmt. Auch einige Holländer sind da, sie stehen beieinander und
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