Mein Erzengel (German Edition)
sie. Geblendet ist sie ihnen wehrlos ausgeliefert. Der Himmel leuchtet wie eine glatte Silberfläche, in der die Sonne sich spiegelt, mitten hinein in ihre Augen. Arme Augen. Früher einmal waren sie dunkel und glänzend und groß, jetzt triefen sie nur noch, blutunterlaufen. Blind sein. Sie würde sich am liebsten mit geschlossenen Augen durch die Straßen bewegen. An der Hand ihres Vaters vielleicht, mit seinen stechenden blauen Augen. Wie hell der Himmel ist. Sie sehnt sich nach Nacht. Mach den Tag fertig, los! Schmier ihm Majoranbutter ins Maul, damit er sich endlich das Leben auskotzt. Schleim legt sich wie flüssige Seife aufs Hirn. Nur schlafen, nichts spüren. Den Körper eintauchen ins Nichts. Träumen von einer sterilen Welt. Alles aus Kunststoff. Kein Vogelgezwitscher, kein Sprießen und Wachsen und Aufplatzen in ekelhaftes Weiß und Rosa. Grau gestrichene Betonplatten unter Regenkaskaden, die alles wegspülen, was lebendig ist. Auch ihre Haut, bis nur noch das Skelett übrig bleibt. Das riecht nicht, juckt nicht, lebt nicht. Vernehmbar nur ein Klappern, dann und wann.
Einmal kommt Heike zu Besuch aus Wien. Sie kennen einander aus der Anfangszeit der Frauenbewegung, haben miteinander Haschisch geraucht und Jimi Hendrix gehört. Heike ist wie eine Schwester, ihr Familienhintergrund ist ähnlich, die Eltern jüdische Kommunisten, sie selbst während des Krieges in einem französischen Kinderheim geboren. Sie, die alles voneinander zu wissen glaubten, haben kürzlich zu ihrem Erstaunen festgestellt, dass sie beide bis ins Teenageralter hinein Daumen gelutscht haben, weshalb beide auch leicht vorstehende Schneidezähne und einen dünneren rechten Daumen haben. Mit dem Daumenlutschen haben sie sich getröstet, davon sind sie überzeugt, ihre Eltern waren in der Emigration zu angespannt, um ihre Kinder mit ausreichend Zärtlichkeit zu versorgen. Ruth und Heike hatten stets das Gefühl, nicht dazuzugehören, in Österreich nie angekommen zu sein. Die ausländischen Freunde, bei denen sie glaubten, vor Antisemitismus geschützt zu sein, die ständigen Abschiede, die Sucht nach Reisen. In einem fort sind sie unterwegs, immer auf der Flucht.
Warum Heike ausgerechnet Heike heißt, hat Ruth nie begriffen. Die Eltern wollten sie wohl vor ihrer jüdischen Herkunft schützen, aus ihr ein österreichisches Kind machen, was, wie bei Ruth selbst, nicht gelingen konnte. Heike aber hat es wenigstens zu einem Kind gebracht, einem österreichischen Kind, der Kindsvater längst anderweitig liiert. Der Sohn ist erwachsen und wohlgeraten, studiert Jura. Manchmal beneidet Ruth ihre Freundin um ihn. Und ein Enkelkind hat sie auch schon.
Ruth schämt sich für ihre Verzweiflung, nicht vor Heike, nur vor sich selbst. Sie sollte ausgehen, sich amüsieren, nicht ständig an Michaël denken, das bringt ihn ja doch nicht zu ihr zurück. Heike würde ihr niemals Vorwürfe machen, geduldig und anteilnehmend schaut sie Ruth mit ihren seltsam leuchtenden blauen Augen an und lässt sie reden, solange es nötig ist.
Mit Heike schafft Ruth es endlich, das Haus zu verlassen. Die Freundin verlangt es nach Tourismus. Ins Rijksmuseum gehen sie, ins Van Gogh Museum, unternehmen sogar einen Tagesausflug nach Haarlem. Wie alle Touristen will Heike auch das Rotlichtviertel sehen. Ruth ist noch nie dort gewesen, Michaël hat sich geweigert, sie dorthin zu begleiten, er wollte nicht zu der gaffenden Männerschar gehören, die sich Tag für Tag hier einfindet. Um die berühmte Straße zu finden, muss man tatsächlich nur den Männern folgen. Sie treten in größeren Gruppen auf und benehmen sich überraschend zivilisiert, kaum einer bleibt demonstrativ vor einem der Fenster stehen, um eine Frau anzuglotzen. Man sieht aber auch keinen hineingehen. Verdienen die Frauen genug? Vielleicht ist am Wochenende mehr los. Ruth stellt sich vor, dass die Männer, sind sie erst einmal mit der jungen Frau allein, ohne den Schutz der Männergruppe, rasch ihr Selbstbewusstsein verlieren. Sie wissen, dass sie ohne zu zahlen niemals eine so schöne Geliebte finden würden. Ebenso wie die Männer werfen Heike und Ruth im Vorübergehen möglichst unaufdringliche Blicke auf die spärlich bekleideten Frauen. Das rote Licht in der gläsernen Kammer lässt ihre Haut rosa schimmern und das Weiß der Bikinis grell aufleuchten.
«Sie sind so schön», sagt Heike.
«Ja», sagt Ruth. «Und sie scheinen sich in ihrem Körper zu Hause zu fühlen. Beneidenswert. Als ich so jung
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