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Mein Herz ruft deinen Namen

Mein Herz ruft deinen Namen

Titel: Mein Herz ruft deinen Namen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanna Tamaro
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erzählt, dass deine Mutter Lehrerin sei. »Und dein Vater?«, habe ich dich ganz arglos gefragt.
    » UB «, hast du in leicht aggressivem Ton erwidert. »Unbekannt. Ändert das was?«
    »Nein, nichts.«
    »Na dann«, hast du hinzugesetzt, »erwähne ihn bitte von jetzt an nie mehr.«
    Am nächsten Tag habe ich dir vorsichtig von der Blindheit meines Vaters erzählt und davon, wie sich unsere Beziehung in den letzten Jahre stetig verschlechtert hatte.
    Während du mit einer Abwesenheit zurechtkommen musstest, musste ich mit einer übergroßen Präsenz fertig werden.
    Zwei Grundgeräusche begleiteten meine Kindheit: das Rattern des Pedals der Nähmaschine meiner Mutter und das Klopfen des Stocks meines Vaters. Häufig überlagerten sie sich – tack tack tack, tick tick tick, tack tack tack, tick tick tick –, gelegentlich übertönt vom unheimlichen Tuten eines Schiffes, das aus dem Hafen von Ancona auslief.
    Natürlich hätte mein Vater zu Hause sehr gut ohne Stock herumlaufen können, die Wohnung war klein, und die Möbel standen immer an derselben Stelle, doch da er ein schweigsamer Mann war, benutzte er dieses Geräusch, damit wir immer wussten, wo er war und was er tat.
    Was diese Wohnung in Ancona betrifft, erinnere ich mich noch an den Tisch aus blauem Resopal in der Küche, den Stolz meiner Mutter. »Er ist aus Resopal«, sagte sie immer wieder zu den Nachbarinnen, die zu Besuch kamen, und zählte ihnen die Tugenden und Vorzüge des Materials auf. Neben dem Resopal gab es noch einen weiteren Helden im Haus: Moplen. Ich sehe noch vor mir, wie meine Mutter stolz auf dem Balkon eine blaue Schüssel schwenkt und ausruft: »Sie ist aus Moplen!«, um die Bewunderung der Nachbarinnen von gegenüber zu erregen.
    Der Kunststoff – Bannerträger der Modernität – hatte unser Leben im Sturm erobert. Kurz zuvor war auch der Fernseher angekommen, erst im einen Haus, dann im anderen und noch einem und noch einem, bis er im Lauf weniger Jahre zu einem unverzichtbaren Mitglied der Familie wurde. Erst konnten wir uns keinen eigenen Apparat leisten, und später, als wir es gekonnt hätten, beschloss meine Mutter, aus Rücksicht auf meinen Vater lieber keinen anzuschaffen.
    »Was ist dieses Fernsehen, von dem alle reden?«, fragte mein Vater eines Tages bei Tisch. »Die Leute drängeln sich in der Bar, um fernzusehen, und der Ton ist so laut, dass man ihn in der ganzen Straße hört.«
    »Es ist wie ein Radio«, erwiderte meine Mutter, während sie das Huhn zerlegte, »aber viel größer und mit einer Glasscheibe davor. Sieht aus wie ein Aquarium, innen drin sind Menschen, die sprechen und sich bewegen.«
    »Wie im Käfig?«
    »In gewissem Sinne, ja.«
    »Was für eine Dummheit! Wäre es nicht besser, sie frei herumlaufen zu sehen? Und was bringt sie überhaupt dazu, sich da drinnen einzusperren?«
    »Man sieht auch Cowboys«, hatte ich schüchtern, beinahe flüsternd eingeworfen, doch niemand hatte auf mich gehört.
    Weil die Vorstellung von uns beiden vor dem Bildschirm, während er unruhig durch die Wohnung wanderte, sie verlegen machte oder vielleicht weil sie voll Schrecken überlegte, dass er alle paar Minuten fragen könnte: »Was passiert jetzt?«, verzichtete meine Mutter auf diesen Fetisch, den die meisten ihrer Bekannten längst ihr Eigen nannten.
    Wir hatten ein Radio, das musste genügen. Jeden Abend versammelten wir uns in andächtigem Schweigen im Wohnzimmer vor dem Apparat, um die Nachrichten zu hören, und später, nach dem Essen, lauschten wir einem Hörspiel oder einem klassischen Konzert. »Hör zu!«, sagte mein Vater zu mir. »Hör zu, damit du dich bildest!«
    An manchen Abenden jedoch zogen wir uns mit der Ausrede, ich müsse unter Aufsicht meiner Mutter noch Hausaufgaben machen, in mein Kinderzimmer zurück und ließen ihn in der Küche allein. Mithilfe von Gläsern, die uns als Verstärker dienten, pressten wir die Ohren an die Wand, um am Fernseher der Nachbarn die damals beliebtesten Sendungen mitzuhören: Il Musichiere , ein musikalisches Quiz, und Alles oder nichts . Ich wiederholte dieses Ritual auch allein, am Nachmittag, sobald ich die fröhliche Erkennungsmelodie der Kindersendung vernahm.
    Diese Ellbogen an Ellbogen verbrachten Nachmittage, die Sprache aus Blicken und Zeichen, die wir erfunden hatten, um unser Geheimnis zu hüten, sind mir als seltene – wenn nicht gar einzige – Momente zärtlicher Zuneigung zwischen mir und meiner Mutter in Erinnerung geblieben.
    Dass unsere

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