Mein Leben als Superagent
Antworten auf Stegreifaufgaben schicken werden?
»Bis nachher, Bodi, Kumpel.« Ich vergrabe das Gesicht in seinem Fell in der Hoffnung, dass sein vertrauter Geruchmich durch den Tag trägt. Ich werde jede Minute zählen, bis ich nach der Schule wieder da bin und sehe, wie er an der Tür auf mich wartet.
Viele Mitschüler sehen im Vergleich zum Ferienbeginn total verändert aus: Robert Orlando trägt jetzt eine Brille, Peter Chapman eine Zahnspange, und Maria Ramsey ist mindestens fünf Zentimeter gewachsen. Ms Williams winkt mir von ihrem Pult fröhlich zu. Na ja, gibt wohl Schlimmeres, als eine Lehrerin zu haben, die Softball spielt, Hunde mag und gern Rock’n’Roll hört.
Nach der Morgenversammlung – wann wird der Unsinn endlich abgeschafft? – fordert Ms Williams uns auf, unsere Buchaufsätze laut vorzulesen. Als sie meinen Namen aufruft, muss ich nach vorne.
»Hast du drei Bücher von der Liste gelesen, Derek?«
»Ähm … nur eins.« Und ich verrate ihr nicht, dass ein Großteil davon nicht mal selber gelesen, sondern von Grandma vorgelesen war. »Ich finde, ich bin als Figur wesentlich interessanter als die meisten Figuren in den Büchern von der Liste.«
»Das dürfte schwer zu entscheiden sein, nachdem du ja nur eins davon gelesen hast.«
entscheiden
»Guter Einwand.«
»Kannst du uns dann bitte etwas über das eine Buch sagen, das du gelesen hast?«
»Ich kann sogar noch mehr.« Ich hole Dads Laptop aus meiner Schultasche und fahre die Animation hoch, die wir letzte Woche gebaut haben. Die Strichmännchen spielen die Handlung des Buches nach, die Geschichte von dem Jungen und seinem Hund.
Als wir durch sind, will Ms Williamsdas Ganze noch mal sehen. Sie stellt mir Fragen zu den Figuren, zu den Schauplätzen, zur Handlung, und ich kann jede einzelne beantworten.
»Also«, sagt sie schließlich. »Du hast zwar keinen Aufsatz darüber geschrieben, aber du hast das gelesene Buch eindeutig bis ins Detail aufgenommen, verarbeitet und verdaut. Und dann noch deine Animation … Ich würde sagen: Auftrag erfüllt.«
verdauen
Noch vor ein paar Monaten wäre Carly stinksauer gewesen, dass ich keinen Ärger kriege, jetzt lächelt sie nur und hält den Daumen hoch. Ich sehe Matt an, dass er sich wünscht, er hätte auch irgendeine Extraarbeit gemacht.
»Außerdem hab ich in diesem Sommer einiges gelernt«, erzähle ich. »Dass wir alle ab und zu mal Blödsinn machen und uns mit schwierigenAufgaben rumquälen. Und selbst wenn Lesen echt anstrengend ist – jeder braucht Geschichten. Ich hatte keine Lust, die Bücher von der Ferienliste zu lesen, aber ich war trotzdem die ganze Zeit von Geschichten umgeben – über einen heldenhaften Hund, einen tapferen Affen, der einem noch tapfereren Jungen hilft, über ein ertrunkenes Mädchen und die Freundin, die sie zurückgelassen hat.«
Ms Williams lehnt sich zurück. »Das sind wirklich ganz schön viele Geschichten für einen Sommer.«
»Das meine ich ja. Geschichten gibt es einfach überall. Ich hab sogar eine Frau kennengelernt, die sich zum Tod ihrer Tochter eine ganz eigene Geschichte zusammengebaut hat. Die Geschichte stimmt zwar nicht, aber sie ist wichtig für sie, damit sie mit ihrem Schmerz klarkommt.«
Ich weiß genau, dass ich für den Geschmack mancher schon genug gelabert hab, aber ich fahre trotzdem fort.
»Mir ist klar geworden, dass wir gar nicht anders können als ständig dazuzulernen. Auch wenn Filzstifte ›wasserfest‹ heißen – irgendwann geht die Farbe doch wieder ab. Avocados geben supermatschige Kanonenkugeln ab, und es gibt Affen, die Windeln tragen.«
»Danke, Derek. Maria, du bist dran.«
»Und wenn man auf einer Fähre gegen den Wind spuckt, kriegt man alles ins Gesicht. Und muskelbepackte Typen mit Bostoner Akzent lassen sich nicht gern mit einem Hundehaufen schikanieren.«
schikanieren
»Okay. Jetzt ist aber Maria dran.«
Als ich mich hinsetze, bin ich ziemlich stolz auf meinen Vortrag undmeine Animation. Ich fühle mich wie ein Rockstar – bis Maria ihr Laptop auspackt und eine Diashow präsentiert. Sie hat alle drei Bücher, die sie gelesen hat, mit Musik untermalt, und zwar mit selbst komponierter und auf dem Cello eigenhändig vorgespielter Musik. Und sie trägt dabei ein Kleid, das sie im Sommer-Nähkurs persönlich genäht hat.
Cello
Wie sagt meine Mutter immer: Hört das Elend denn eigentlich nie auf?
Nein, ich glaube nicht.
Janet Tashjian hat bereits zahlreiche Bücher für Kinder und Jugendliche
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