Der Dschungel
1
Vier Uhr, die Trauung war vorüber, und die ersten Kutschen langten vor dem Lokal an. Die ganze Strecke schon folgte ihnen eine Menschenmenge, angelockt durch die lautstarke Aufführung von Marija Berczynskas. Marija hatte eine schwere Last auf ihren breiten Schultern ruhen, nämlich dafür zu sorgen, daß die Feier in gebührlicher Form und nach bester heimatlicher Tradition verlief. Und so war sie – geschäftig hierhin und dorthin hetzend, jedermann unsanft aus dem Weg stoßend, in einem fort mit ihrer gewaltigen Stimme schimpfend und ermahnend – zu sehr darauf bedacht, daß andere die Schicklichkeit einhielten, als daß sie selber sie gewahrt hätte. Sie war als letzte aus der Kirche gekommen, und da sie als erste im Saal sein wollte, hatte sie dem Kutscher befohlen, schneller zu fahren. Als der sich da aber nicht dreinreden ließ, hatte Marija das Wagenfenster aufgerissen, sich hinausgelehnt und dem Kerl gehörig die Meinung gesagt, erst in litauisch, was er nicht verstand, und dann noch einmal in polnisch. Auf seinem hohen Bock ihr gegenüber im Vorteil, hatte er nicht nachgegeben, ja sogar zu widersprechen gewagt, und daraus war ein heftiger Wortwechsel entstanden, der die gesamte Ashland Avenue angehalten und eine halbe Meile lang an jeder Seitenstraße ihr Gefolge um einen neuen Schwarm Gassenjugend vermehrt hatte.
Das war sehr unangenehm, denn vorm Eingang scharten sich ebenfalls schon viele Leute. Die Musik spielte bereits auf, und einen halben Block weit konnte man das dumpfe Brummen eines Cellos vernehmen sowie das Quietschen zweier Geigen, die einander an Höhe und tonaler Akrobatik zu übertreffen suchten. Als Marija all die Menschen sah, hörte sie abrupt auf, sich über des Kutschers Vorfahren auszulassen, sprang vom fahrenden Wagen, stürzte sich in die Menge und bahnte sich hinein in den Saal. Sobald sie drinnen war, drehte sie sich um und preßte nun in die entgegengesetzte Richtung, wobei sie »Eik! Eik! Uzdaryk duris!« rief, und zwar so laut, daß der Krach von der Kapelle dagegen wie Sphärenmusik klang.
»Z. G RAICZUNAS • P ASILINKSMINIMAMS D ARZAS «, »V YNAS & S ZNAPSAS • W EINE & S PIRITUOSEN « und»G EWERKSCHAFTSLOKAL « stand draußen auf den Schildern. Jene Leser, die mit der Sprache des fernen Litauens noch nicht viel zu tun gehabt haben, wird es freuen, erklärt zu bekommen, daß es sich um den Vereinssaal einer Kneipe in jener Gegend von Chicago handelte, auf die man dort als »hinter den Yards« – den Vieh- und Schlachthöfen – verweist. So genau und faktengerecht diese Angabe auch ist, wie erbärmlich unzureichend wäre sie jedoch dem erschienen, der wußte, daß hier jetzt die große Stunde der Verzückung im Leben eines der sanftesten Geschöpfe Gottes anlief, daß dies der Schauplatz der Hochzeitsfeier und Freudenverklärung der kleinen Ona Lukoszaite war!
Sie stand in der Tür, behütet von Kusine Marija, noch ganz atemlos davon, sich durch die Menge zu drängen, und in ihrem Glück überaus rührend, ja ergreifend anzuschauen. In ihren Augen glänzte Staunen, ihre Lider zitterten, und ihr sonst blasses Gesichtchen glühte. Sie trug ein Musselinkleid in augenfälligem Weiß, und auf ihre Schultern fiel ein kleiner gestärkter Schleier, in den fünf rosa Papierrosen und elf grellgrüne Rosenblätter gesteckt waren. Ihre Hände steckten in neuen weißen Baumwollhandschuhen, und sie verkrampfte sie nervös, während sie die Augen langsam umherschweifen ließ. Es war beinah zuviel für sie; in ihrem Gesicht und im Beben ihres Körpers spiegelte sich der Schmerz allzugroßer Gemütsbewegung wider. Sie war so jung – erst fünfzehn – und zudem klein für ihr Alter, das reinste Kind noch. Und jetzt war sie gerade getraut worden, war nun vermählt mit Jurgis, von allen Männern mit ihm, Jurgis Rudkus, dem mit der weißen Blume im Knopfloch seines neuen schwarzen Anzugs, dem mit den mächtigen Schultern und riesigen Händen.
Ona war blauäugig und blond, Jurgis dagegen hatte große schwarze Augen mit buschigen Brauen und fülliges schwarzes Haar, das sich um seine Ohren ringelte – kurz, sie gaben eines jener eigentlich unmöglichen Paare ab, durch die Mutter Natur so oft das Sprichwort »Gleich und gleich gesellt sich gern« Lügen straft. Jurgis konnte sich ein Rinderviertel von zweieinhalb Zentnern auf die Schultern heben und es in einen Waggon tragen, ohne unter der Last zu wanken, ja ohne sich dabei besonders anzustrengen. Jetzt aber stand er verängstigt
Weitere Kostenlose Bücher