Mein Leben
Rahmen einer Organisation, welcher Art auch immer, habe ich nie gehört, es hat sie wohl nicht gegeben. Unternehmungsgeist war nicht seine Sache.
Anders als mein Vater, der mehrere Sprachen beherrschte – Polnisch und Russisch, Jiddisch und, wie beinahe jeder gebildete Jude in Polen, natürlich auch Deutsch –, war meine Mutter nicht sprachgewandt: Bis zum Ende ihres Lebens, bis zum Tag, an dem man sie in Treblinka vergaste, sprach sie zwar ein makelloses, ein besonders schönes Deutsch, aber ihr Polnisch war, obwohl sie in diesem Land Jahrzehnte gewohnt hatte, fehlerhaft und eher dürftig. Jiddisch konnte sie nicht; und wenn sie es doch zu sprechen versuchte – etwa beim Einkauf auf dem Marktplatz in Warschau –, bekam sie von den nachsichtig lächelnden jüdischen Verkäufern zu hören: »Die Madam kimt aus Deitschland.«
In der Stadt, in der sich meine Eltern niedergelassen hatten, in Włocławek an der Weichsel, fühlte sich meine Mutter beinahe wie einst E.T.A. Hoffmann im unfernen Plozk – also in der Verbannung: Polen war und blieb ihr fremd. Wie sich Irina Sergejewna in Tschechows »Drei Schwestern« nach Moskau sehnt und von Moskau träumt, so sehnte sich meine Mutter nach jener Metropole, die in ihren Augen Glück und Fortschritt symbolisierte und in der sie alle lebten, ihr nun schon alter Vater, ihre Schwester, vier ihrer Brüder und auch noch einige ihrer Schulfreundinnen: Sie sehnte sich nach Berlin.
Doch vorerst mußte sie mit Włocławek vorliebnehmen, einer aufstrebenden Industriestadt, die bis 1918, also bis zur Wiedererrichtung des polnischen Staates, zu Rußland gehört hatte; damals verlief in ihrer unmittelbaren Nähe die deutsch-russische Grenze. In den zwanziger Jahren lebten in Wloclawek rund 60000 Menschen, davon etwa ein Viertel Juden. Nicht wenige von ihnen hatten eine auffallende Schwäche für die deutsche Kultur. Sie fuhren von Zeit zu Zeit nach Berlin oder nach Wien, zumal dann, wenn man eine medizinische Kapazität zu Rate ziehen wollte oder sich gar einer Operation unterziehen mußte. In ihren Bücherschränken fanden sich neben den Werken der großen polnischen Dichter oft auch die deutschen Klassiker. Und die meisten dieser gebildeten Juden lasen selbstverständlich deutsche Zeitungen. Bei uns wurde das »Berliner Tageblatt« abonniert.
Vier katholische Kirchen gab es in der Stadt, eine evangelische Kirche, zwei Synagogen, mehrere Fabriken, darunter Polens älteste und größte Papierfabrik, ferner drei Kinos – aber kein Theater und kein Orchester. Die wichtigste Sehenswürdigkeit in Wloclawek ist nach wie vor die im vierzehnten Jahrhundert erbaute gotische Kathedrale, in der man einen von Veit Stoß geschaffenen Sarkophag bewundern kann. Unter den Zöglingen des in der Nachbarschaft der Kathedrale befindlichen Priesterseminars war in den Jahren 1489 bis 1491 ein junger Mann aus Thorn: Nikolaus Kopernikus.
In Włocławek bin ich am 2. Juni 1920 geboren. Warum mir der Name Marcel gegeben wurde, darüber habe ich mir nie Gedanken gemacht. Erst viel später stellte sich heraus, daß dies durchaus kein Zufall war. Meiner dreizehn Jahre älteren Schwester wurde von meiner Mutter – nur sie kümmerte sich um solche Angelegenheiten, nicht etwa mein Vater – der Name Gerda gegeben. Meine Mutter ahnte nicht, was sie damit anrichtete. Denn Gerda galt in Polen als ein typisch deutscher Vorname. Doch hatte die Deutschenfeindschaft in diesem Land eine alte, mindestens bis zu den Ordensrittern reichende Tradition – und während des Ersten Weltkriegs und in der folgenden Zeit waren die Deutschen wieder einmal recht unbeliebt. So wurde denn meine Schwester wegen ihres deutschen Vornamens in der Schule oft verhöhnt, wobei schwer zu entscheiden war, was hier im Vordergrund stand – Antideutsches oder Antisemitisches.
Meinem Bruder, der neun Jahre älter war als ich, erging es in dieser Hinsicht etwas besser. Auch ihm hat meine doch etwas weltfremde Mutter einen betont deutschen Vornamen gegeben, Herbert, aber auch einen zweiten gegönnt, und zwar einen, der bei Juden seit weit über zwei Jahrtausenden häufig vorkommt: Alexander. Der Grund: Der Überlieferung zufolge hat Alexander der Große Juden gut behandelt und ihnen allerlei Privilegien eingeräumt. Aus Dankbarkeit haben die Juden schon zu seinen Lebzeiten ihre Söhne oft nach ihm benannt. Übrigens heißt auch mein Sohn Andrew Alexander, was freilich überhaupt nichts mit dem König von Mazedonien zu tun hat, sondern mit der
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