Mein Leben
Eierschale, blickte hinein und stellte fest, womit sie offenbar gerechnet hatte – daß da noch etwas geblieben war. Sie belehrte mich knapp und streng: »So ißt man Eier in Deutschland nicht.« Damals habe ich wohl zum ersten Mal in meinem Leben das Wort »Deutschland« gehört – und es klang nicht gerade freundlich.
Bald lag ich im Bett und weinte bitterlich. Weil ich einsam und übermüdet war? Weil mich die Tante Else schroff behandelt und mir einen heftigen Schrecken versetzt hatte? Gewiß, aber noch mehr fürchtete ich ein großes Ölgemälde, das über meinem Bett hing. Unheimlich kam es mir vor und schauderhaft. Es war die Kopie eines in jenen Jahren so geschätzten wie beliebten Bildes: Arnold Böcklins »Triton und Nereide«.
Am nächsten Morgen frühstückte ich zusammen mit meinen beiden Vettern und der Cousine. Dann machten wir, von einem dürren Kinderfräulein angeführt, einen Spaziergang. Es ging in den Tiergarten, doch vorher konnten wir auf Stufen herumspringen und, um eine schöne Säule rennend, einander jagen. Es handelte sich um die Stufen des Reichstags und um die damals vor dem Reichstag stehende Siegessäule. So sahen meine frühesten Kontakte mit dem Preußischen aus. Noch konnte ich nicht ahnen, daß Preußisches mich mein ganzes Leben hindurch zwar nicht gerade prägen, aber doch begleiten sollte: Kleist vor allem und Fontane und auch Schinkel.
Vorerst blieb ich nicht lange in Berlin, denn bald ging es mit der ganzen Familie in die Ferien – nach Westerland. Mit uns fuhren das Kinderfräulein, die Köchin, das Zimmermädchen und, versteht sich, die beiden Reitpferde. Mitgenommen wurden viele, viele Koffer, Schrankkoffer zumal. Für mich war der Aufenthalt auf Sylt sehr nützlich. Denn als wenige Monate später meine Mutter nach Berlin kam und mich polnisch ansprach, antwortete ich ihr deutsch. Ich konnte nach kurzer Zeit schon viel besser deutsch als polnisch. Aber sie fand meine Sprachkenntnisse dennoch ungenügend – und sie hatte recht. Ich mußte ihr täglich mindestens eine halbe Stunde vorlesen, leider aus einem Buch, das mir jemand geschenkt hatte, dem ich aber nichts abgewinnen konnte. Es war ein damals populäres Reisebuch, »Ein Bummel um die Welt«, des Berliner Journalisten Richard Katz.
Ich habe also laut gelesen und leise gelitten, dann aber immer kräftiger gestöhnt und geschimpft. Meine Mutter versuchte mich zu beruhigen: »Warte, warte, es wird noch der Tag kommen, da wirst du gern und freiwillig deutsche Bücher lesen.« Ich schrie: »Nein, niemals!« Wie man sieht, habe ich mich damals doch geirrt. Denn wenn man es recht bedenkt, habe ich den weitaus größten Teil meines Lebens damit verbracht, deutsche Bücher zu lesen, allerdings nicht immer freiwillig. Aber vielleicht ist dieser Richard Katz schuld daran, daß ich mich später, von seltenen Ausnahmen abgesehen, nie sonderlich für Reisebücher erwärmen konnte.
Der Onkel, das Oberhaupt der Familie, hatte uns in der armseligen Wohnung meines Großvaters, des längst emeritierten Rabbiners Mannheim Auerbach, untergebracht – unweit des Bahnhofs Charlottenburg. Schon nach zwei oder drei Wochen in der neuen Umgebung – man schrieb immer noch das Jahr 1929 – wurde ich eingeschult. Während die Kinder von Onkel Jacob und Tante Else nicht etwa eine Volksschule besuchten, sondern, wie in vornehmen Familien üblich, von einem ins Haus kommenden Privatlehrer unterrichtet wurden, konnte davon in meinem Fall nicht die Rede sein – aus finanziellen Gründen. Als meine Mutter mich an meinem ersten Berliner Schultag abholte, sah sie Tränen in meinen Augen. Nein, man hatte mir in der Volksschule in Berlin-Charlottenburg, Witzlebenstraße, nichts angetan. Nur war ich Zeuge eines kleinen, mir bisher unbekannten Vorfalls gewesen.
Ein Schüler, der etwas ausgefressen hatte, wurde von unserem Lehrer, Herrn Wolf, nach vorne gerufen. Sogleich war ein kurzes Kommando zu hören: »Bück dich!« Der kleine Missetäter befolgte es gehorsam und ruckartig – und bekam mit einem Rohrstock, der zu diesem Zweck in der Ecke des Klassenzimmers gestanden hatte, einige kräftige Hiebe. Dann durfte das weinende Kind auf seinen Platz zurückkehren. Es war, wie ich mich später überzeugen konnte, ein ganz alltäglicher Vorfall: Niemand in der Klasse war verwundert oder gar erschrocken – bloß ich, der Fremdling. Denn in Polen hatte ich derartiges noch nie erlebt.
Mit der Übersiedlung nach Berlin begann ein neuer Abschnitt meines
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