Mein Schutzengel ist ein Anfaenger
schwanken. Erst vier Stück übereinander haben die notwendige Höhe ergeben, damit Max ohne Hilfe aufstehen kann. Durch das Fenster ist die Krone der abgestorbenen Linde neben dem Schwimmteich zu sehen. Nebelfetzen steigen aus dem Tal auf der Flucht vor der aufgehenden Sonne. Im Haus ist noch alles ruhig, selbst der Hahn hat sich wieder beruhigt.
Jedes Mal, wenn er Ulrich und Johanna auf ihrem Hof im Allgäu besucht, fühlt er sich beschenkt: mit neuen Baumnamen, Wissenswertem über Permakultur oder die Gesetze des Wachstums und der Ernte. Das meiste vergisst er gleich wieder, dennoch fühlte es sich gestern Abend wundervoll an, solche Worte wie ein Mantra nachzusprechen.
Ulrich widmet sich seit zwei Jahren ganz diesem Ort. Zuerst waren es die Kräuter und schließlich der Wunsch, als Selbstversorger zu leben. Nach fünfzig Jahren in unzähligen Städten. Nach Jahrzehnten als Regisseur und Theaterleiter, in Räumen ohne Licht. Nach und nach kamen die Fische im Schwimmteich, die Hühner und vor wenigen Wochen drei Schafe dazu. Jeder Tag ist nun voller Verpflichtungen, birgt andere Herausforderungen.
Vor sich einen dampfenden Kräutersud, fragt Max seinen Freund aus, was an diesem Tag draußen zu tun wäre. Und schließt nahtlos, ganz Städter, die Frage an, ob es nicht manchmal trostlos einsam sei, so weit weg von aller Zivilisation.
» Manchmal, wenn ich am Abend auf der Bank neben dem Badeteich sitze und die Krokodile füttere«, sagt Ulrich, » kommt schon die Frage hoch: Warum tue ich das eigentlich, warum verbringe ich meine Tage nicht mit Espressotrinken in Berlin?«
Max hofft, dass die Geschichte gut ausgeht. Und wirklich: Ulrich fährt an solchen Tagen mit seinem Jeep zu einem Freund, der einen Biohof betreibt. Der erklärt ihm dann, wie wichtig ihre gemeinsame Arbeit sei.
» Dass ich der Erde etwas zurückgebe, wenn ich mich um Pflanzen kümmere, um Tiere. Und damit auch mir selbst etwas Gutes tue. Es reicht manchmal schon zu wissen, dass ein anderer Mensch ähnlich denkt wie man selbst, diese Übereinstimmung zu spüren, um die Zweifel in Schach zu halten wie die Brennnesseln, die alle paar Wochen das Blumenbeet überwuchern.«
Für den nächsten Winter hat Ulrich sich eine Hütte gebaut, verborgen im angrenzenden Wald, um noch näher dran zu sein an der Natur. Er deutet auf die dichten Tannen links neben dem Hof. In diesem Moment gleicht er nicht einem Bauern, auch nicht einem Landschaftsarchitekten oder intellektuellen Aussteiger, sondern einem Gläubigen vor dem Altar.
Johanna lächelt. Es hat etwas Rührendes, wenn die beiden Männer über Landwirtschaft sprechen, beide ohne wirklich Ahnung davon zu haben. Auch sie nimmt sich gerade eine Auszeit vom Theater. Wie Sylvia belegt sie ein spirituelles Seminar nach dem anderen, atmet holotrop, meditiert exzessiv und erforscht ihren Schatten. Mit einem großen, nur Schauspielern gegebenen Ernst und gleichzeitig vollkommen spielerisch. Sie will zu sich finden. – Wer erwartet einen dort, ein Gefährte, ein Doppelgänger? Max stellt die Frage nicht. Die Antwort kennt er bereits.
Für die verwöhnten Hühner fühlen sich Johanna und Ulrich gleichermaßen verantwortlich. Sie sind der Nenner für ihr gemeinsames Leben. Drei einvernehmlich nebeneinanderher pickende Vögel. Den Vorgängerhahn hat sich ein Raubvogel gekrallt. Aber die Hühner, die blieben immer zusammen, auch wenn sie stritten, sagt Johanna und wendet sich an Max: » Erinnerst du dich noch an den letzten Sommer? Wie du versucht hast zu schwimmen. Nächste Woche ist es genau ein Jahr her. Ist dein Schutzengel immer noch ein Anfänger?«
Ohne nachzudenken antwortet Max: » Wir haben viel zusammen erlebt.« Dann überlegt er doch. » Ich glaube, er kann sich jetzt öfter zurücklehnen als damals. Und ich habe gelernt, dass man auch vorankommt, wenn man den Weg nicht kennt.«
Johanna lächelt, und auch das ist anders als vor einem Jahr: Max lächelt mit.
Den ganzen Tag verbringt er schreibend auf dem Holzbalkon. Wieder glitzert das Wasser von unten verlockend, doch nun erfreut er sich daran ohne Wehmut.
Zum Abendessen versammeln sich die drei wieder um den großen Tisch auf dem Balkon. Und plötzlich ist eine Idee geboren, ohne dass einer von ihnen später sagen könnte, von wem sie ursprünglich stammte: Eine Kapelle werden sie bauen, in der Nähe des Hofes.
Max ist ganz aufgeregt. Im Leben eine Kirche errichtet zu haben, klingt noch viel erfüllender, als einen Apfelbaum zu pflanzen. Er
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