Mein Schutzengel ist ein Anfaenger
Erinnerung an die in seinem Namen vergossenen Tränen legt Max die linke Hand aufs Brustbein und die rechte unterhalb des Schambeins. Die Kombination scheint ihm irgendwie passend.
Schon nach einer Minute setzt das Schleusen öffnende Niesen ein, einmal, zweimal. Beim dritten Mal zieht sich der Niesreflex in der Nase zusammen, ist aber nicht stark genug und verschwindet wieder. Stille. Unmerklich verzieht sich sein Mund zu einem breiten Grinsen. Wird immer größer, bis es in ein Lachen umschlägt, so fröhlich, wie er schon seit Jahren nicht mehr gelacht hat. Es wird immer lauter, Tränen schießen ihm in die Augen, aber ganz andere als bei der Leber. Sein Oberkörper schüttelt sich vor Freude.
Verrückt! Was für ein Wunder!
Und noch während dieses Lachen abebbt, schwört er sich, unter keinen Umständen irgendeiner Person, und hieße sie Karl, davon zu erzählen, zu sonderlich ist dieses Erlebnis und zu schwierig in Sprache zu fassen. Zu schluchzen wegen all der in der Leber gespeicherten Wut mag ja noch angehen, aber grundlos zu lachen wie der glücklichste Mensch auf Erden, das passt nicht zu ihm. Meint Max.
Aber aufregend ist es trotzdem gewesen. Zum ersten Mal in seinem Leben beglückwünscht er sich dazu, dass sich sein Körper trotz der ihm auferzwungenen Einschränkungen alles in allem doch gut gehalten hat. Sein Herz hat geschlagen, seine Nieren Blut gewaschen, der Magen verdaut … Eigentlich stören hauptsächlich die renitenten Entzündungen im Rückenmark. Der Rest werkelt im Rahmen seiner Möglichkeiten recht vernünftig dagegen an.
Andererseits bleibt alles so fragil. Dieses kostbare Gleichgewicht ist jeden Moment gefährdet. Mit ein bisschen Grippe kann er sich gar nicht mehr bewegen, und wenn einmal das Handgelenk wehtäte, wäre er mitsamt Rollstuhl und Krücken in seiner Wohnung eingekerkert.
Aber was tut das heute schon?
31.
Ein Heilu n gsangebot anzunehmen, könnte manch einem jedoch noch mehr Spaß machen.
Max löscht, ganz gegen seine Gewohnheit, eine E-Mail, ohne sie beantwortet zu haben. Diese stammte von einer besorgten Leidensgenossin. Sie wollte sich nur versichern, ob er es auch schon gehört hätte: Die Zulassung für ein neues Medikament wäre endlich erfolgt oder stände zumindest kurz bevor. Man wisse im Pharmasumpf ja nie. Mit diesem könnte er unter Umständen besser laufen. Vielleicht gar auf den Rollstuhl verzichten. – Und falls das doch wieder einmal eine Falschmeldung sei, gebe es immerhin ein unter der Hand verschriebenes Präparat, das fast genauso gut wirke. Nur eben ohne schönes Schächtelchen und auf eigene Gefahr.
Nachdem Max die Mail gelesen hatte, konnte er – obwohl er sich dabei wie ein Freak vorkam – nicht anders, als dem Wirkstoff im Internet hinterherzusurfen. Hastig, ohne genau zu lesen. Dennoch, es schien zu stimmen, was die Unbekannte verkündigt hatte. Er ging ins Bett wie betäubt. Als er am nächsten Morgen erwachte, waren die Tabletten das Erste, woran er dachte. Und er hoffte für einen Augenblick, sich das alles nur eingebildet zu haben. Er wollte das nicht. Es war ihm zu viel. Niemand würde verstehen, dass er Angst vor diesen Tabletten hat, eine Angst, über die er sich selbst keine Rechenschaft ablegen kann.
Lasst mich doch in Ruhe, dachte er immer wieder. Lasst mich doch in Ruhe mit euren Ankündigungen.
Deswegen löscht er die Mail.
Dabei liegen die Tabletten mit dem Ersatzwirkstoff seit seinem Klinikaufenthalt in der Küchentischschublade. Die Stationsärztin hat sie ihm bei seiner Entlassung in die Hand gedrückt. Er müsste sie allerdings unter ärztlicher Beobachtung nehmen. Erst hat Max das Döschen mit den weißen Tabletten verdrängt, dann vergessen. Bis zu der E-Mail.
Fast ein Jahr hat er gebraucht, um sich mit dem Rollstuhl auszusöhnen, und nun soll er das alles aufgeben für ein paar Tabletten? Er ist inzwischen schneller als jeder Fußgänger, er kommt an Orte, die er jahrelang gemieden hat. Ins Theater, ins Kino, ins Museum … Erst am Wochenende war er im Englischen Garten! Wenn er jetzt wieder hundert Meter gehen könnte, dann wäre er zwar wieder auf demgleichen Stand wie vor einem Jahr, aber wozu? Es war so kräftezehrend, sich Tag für Tag zu überfordern.
Natürlich würde er gerne gehen können, in seiner Wohnung bleiben, nicht auf Hilfe angewiesen sein. Aber gleichzeitig fragt er sich, ob dieses » natürlich« völlig aufrichtig ist. Kranksein ist normal, hat das nicht auch die Hypnotiseurin
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