Meine Kinderjahre
stammte auch Necker, den man ›den Vater der Französischen Revolution‹ nennen kann. Das verdanke ich Ferber, Hauptmann Ferber, den wir Teinturier nannten. Schade, daß er von dem Aquavit nicht lassen konnte. Mitunter war es ein Jammer.«
Ja, ein Jammer war es, nur nicht für uns Kinder, die wir umgekehrt immer in einen Jubel ausbrachen, wenn der Hauptmann, in oft ziemlich desolatem Kostüm, die große Kirchenstraße heraufgetaumelt kam, um irgendwo seine Frühstücksstunde fortzusetzen. Wir folgten ihm dann in kurzer Entfernung und neckten und reizten ihn so lange, bis er den einen oder andern von uns zu fangen und abzustrafen suchte. Mitunter gelang es ihm auch; ich aber entkam ihm jedesmal mit Leichtigkeit, weil ich für meine Neckereien immer nur solche Tage wählte, wo es kurz vorher stark geregnet hatte. Dann stand auf dem Straßendamme zwischen unserm Haus und der Kirche drüben ein ungeheurer Wasserpfuhl, der nun mein Nothafen wurde. Meine Stelzen schräg unterm Arm, sprang ich auf diese, sobald ich merkte, daß mir Teinturier trotz seines Zustandes dicht auf den Fersen war, mit einem raschen Rucke hinauf und marschierte nun triumphierend in den Wasserpfuhl hinein. Da stand ich dann wie ein Storch auf einem Stelzen und präsentierte mit dem andern unter fortgesetzter Verhöhnung. Fluchend und drohend zog er weiter, der arme Hauptmann. Aber er hütete sich, seine Drohung wahrzumachen, weil er sich in seinen guten Stunden nicht gern an die schlimmen erinnern mochte.
Wir hatten verschiedene Spielplätze. Der uns liebste war aber wohl der am Bollwerk, und zwar gerade da, wo die mehrerwähnte, von unserm Hause abzweigende Seitenstraße einmündete. Die ganze Stelle war sehr malerisch, besonders auch im Winter, wo hier die festgelegten und ihrer Obermasten entkleideten Schiffe lagen, oft drei hintereinander, also bis ziemlich weit in den Strom hinein. Uns hier am Bollwerk herumzutummeln und auf den ausgespannten Tauen, so weit sie dicht über dem Erdboden hinliefen, unsere Seiltänzerkünste zu üben, war uns gestattet, und nur eines stand unter Verbot: Wir durften nicht auf die Schiffe gehn und am wenigsten die Strickleiter hinauf bis in den Mastkorb klettern. Ein sehr vernünftiges Verbot. Aber je vernünftiger es war, desto größer war unser Verlangen, es zu übertreten, und bei »Räuber und Wandersmann«, das wir alle sehr liebten, verstand sich diese Übertretung beinahe von selbst. Entdeckung lag überdies außerhalb der Wahrscheinlichkeit; die Eltern waren entweder bei ihrer »Partie« oder zu Tisch geladen. »Also nur vorwärts. Und petzt einer, so kommt er noch schlimmer weg als wir.«
So dachten wir auch eines Sonntags im April 31. Es muß um diese Jahreszeit gewesen sein, weil mir noch der klare und kalte Luftton deutlich vor Augen steht. Auf dem Schiffe war keine Spur von Leben und am Bollwerk keine Menschenseele zu sehn, was mir des ferneren beweist, daß es ein Sonntag war.
Ich, als der älteste und stärkste, war natürlich Räuber, und acht oder zehn kleinere Jungens – unter denen nur ein einziger, ein Illegitimer, der, wie zu Begleichung seiner Geburt, Fritz Ehrlich hieß, es einigermaßen mit mir aufnehmen konnte – waren schon vom Kirchplatz her, wo wie gewöhnlich die Jagd begonnen hatte, dicht hinter mir her. Ziemlich abgejagt kam ich am Bollwerk an, und weil es hier keinen anderen Ausweg für mich gab, lief ich über eine breite und feste Bohlenlage fort auf das zunächst liegende Schiff hinauf. Die ganze Meute mir nach, was natürlich zur Folge hatte, daß ich vom ersten Schiff alsbald aufs zweite und vom zweiten aufs dritte mußte. Da ging es nun nicht weiter, und wenn ich mich meiner Feinde trotzdem erwehren wollte, so blieb mir nichts anderes übrig, als auf dem Schiffe selbst nach einem Versteck oder wenigstens nach einer schwer zugänglichen Stelle zu suchen. Und ich fand auch so was und kletterte auf den etwa mannshohen, neben der Kajüte befindlichen Oberbau hinauf, darin sich neben andren Räumlichkeiten gemeinhin auch die Schiffsküche zu befinden pflegte. Etliche in die steile Wandung eingelegte Stufen erleichterten es mir. Und da stand ich nun oben, momentan geborgen, und sah als Sieger auf meine Verfolger. Aber das Siegesgefühl konnte nicht lange dauern; die Stufen waren wie für mich, so auch für andre da, und in kürzester Frist stand Fritz Ehrlich ebenfalls oben. Ich war verloren, wenn ich nicht auch jetzt noch einen Ausweg fand, und mit aller Kraft und,
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