Meine Schwester und andere Katastrophen
mit billigem Konfekt überreicht. Ich glaube, sie hat dem Kleinen seinen Ballon zurückgegeben, statt das Ding mit der Spitze ihres Stocks aufzuspießen. Eigentlich halte ich mich für intelligent, trotzdem bin ich durchaus anfällig für Werbung. Hätte jemand meine Seele geknackt, wäre ihm ein klebriger, grüner Schleim aus Materialismus und Gutgläubigkeit entgegengespritzt. Ich brauchte nur ein Produkt auf dem Bildschirm zu sehen, sagen wir Cornflakes - »Haben Sie vergessen, wie gut sie schmecken?« -, und sofort dachte ich: Habe ich das wirklich vergessen? Vielleicht schon. Ich sollte das lieber überprüfen. Und schon schickte ich Tim zur Tankstelle, um eine Packung zu kaufen. Trotzdem war das mit dem Weinen verdächtig.
Ich fühlte mich elend, und das hatte nichts mit den Hormonen zu tun. Ich war dumm, ich war enttäuscht von mir selbst, und ein schlimmeres Gefühl gibt es kaum. Ich mochte keine Babys. Sie machten mir Angst. Es war wie eine Spinnenphobie, nur rationaler. In der Redaktion schwollen reihum die Frauen an, verschwanden dann für drei Monate, kehrten triumphierend wie von einer heroischen Expedition zurück, die stattliche Figur halb eingedellt, und präsentierten uns ein kleines, kreischendes Bündel, um das sich alle scharten - als gäbe es etwas Neues zu sehen, wo doch in Wahrheit alle Babys gleich aussehen, sonst müsste man ihnen im Krankenhaus keine Armbänder verpassen. Ich hielt mich bei diesen Gelegenheiten immer im Hintergrund, leicht angespannt lächelnd und hoffend, dass man mich nicht zwingen würde, das Kleine anzufassen.
Ich wollte kein Kind .
Daran war nur meine fünf Jahre jüngere Schwester Cassie schuld. Ich kann mich heute noch erinnern, wie ich mit unserem kanadischen Kindermädchen den Hügel hochstapfte, während Cassie kreischend in ihrem Kinderwagen thronte.
»Ich will keine Kinder«, verkündete ich. »Ich will lieber einen Hund.«
Das Kindermädchen - sie hatte Haare, die sich beim leisesten Anflug von Feuchtigkeit zu kringeln begannen, und hasste England - erwiderte: » Ach ja? Alle anderen Frauen werden ihre Babys im Kinderwagen herumfahren, nur du hast einen Hund an der Leine.«
Genau.
Cassie biss. Ein Hund ließ sich knuddeln. Außerdem musste sie rund um die Uhr bespaßt werden. Es gab keine ruhige Minute. So als hätte man mit Heinrich dem Achten zusammengelebt. Einem verfressenen Gierschlund, cholerisch,
schnell gelangweilt, beängstigend mächtig. Ich wurde ihr Ersatzkindermädchen, nachdem unsere Mutter das kanadische Kindermädchen nach Hause geschickt hatte, weil es Cassie in die Speisekammer gesperrt hatte, um ungestört »Die Profis« auf Video sehen zu können. (Wir waren die erste Familie in unserem Bekanntenkreis, die einen Videorecorder besaß. Er war schlachtschiffgrau und groß wie ein Reisekoffer.) Cassie vertrieb sich die Zeit in der Speisekammer damit, zu schreien und Rosinen zu naschen, von denen sie starken Durchfall bekam.
Der Durchfall, in dem eine erschreckende Anzahl unzerkauter Rosinen zu sehen war, sowie die beiläufige Bemerkung einer Nachbarin: »Ich höre die Kleine oft schreien«, weckten den Verdacht unserer Mutter. Sie schlich vorzeitig vom Büro heim und erwischte das Kindermädchen in flagranti mit Bodie und Doyle. Bei der Vorstellung, dass Cassie misshandelt werden könnte, wurde unserer Mutter zwar übel, aber ihre Arbeit gab sie deshalb nicht auf. Sie arbeitete für ihr Leben gern. Schließlich war sie Herausgeberin einer Zeitschrift namens Mother & Home.
Dad war Empfangschef in einem Hotel in der Stadtmitte; er liebte seinen Job, hätte ihn aber notfalls für uns aufgegeben - für meine Mutter, besser gesagt. Aber das tat er nicht. Ich glaube, er wusste, dass meiner Mutter ein Hausmann nicht geheuer gewesen wäre. Ob es das Wort damals überhaupt schon gab?
Also wurde Kristina, das dänische Au-pair, eingestellt. Sie war blond und wunderschön und wurde schon Tage nach ihrer Ankunft von einem Engländer mit Cabrio gepflückt. Trotz eines Zirkon-geschmückten Verlobungsringes wohnte sie weiterhin bei uns. Sie behandelte Cassie wie eine Luxuspuppe. Mir fiel auf, dass unsere Mutter oft gereizt wirkte,
wenn sie in Kristinas Nähe war - die seltsam verträumt und überheblich zugleich wirkte -, aber nichts an ihrer Fürsorge auszusetzen fand. Für mich war Kristina eine Göttin. Unsere Mutter war glamourös, auf spröde Weise, aber Kristina war exotisch, selbst wenn sie Trainingshosen trug. Unsere Mutter murmelte das Wort
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