Die Wahrheit des Blutes
1
Es regnete. Seit Menschengedenken hatte es keinen derart miesen Juni gegeben. Schon wochenlang zeigte sich das Wetter immer gleich: grau, feucht und kalt. Vor allem die Nächte waren schlimm. Hauptkommissar Olivier Passan ließ den Verschluss seines Px4 Storm SD nach vorn schnellen und legte die Waffe entsichert auf seinen Schoß. Mit der Linken griff er wieder nach dem Lenkrad, rechts tippte er auf seinem iPhone herum. Auf dem Touchscreen baute sich die Navi-App auf und beleuchtete sein Gesicht gespenstisch von unten.
»Scheiße, wo sind wir hier überhaupt?«, knurrte Fifi. »Hast du eine Ahnung, wo wir hier rumgurken?«
Passan gab keine Antwort. Langsam und mit ausgeschalteten Scheinwerfern fuhren sie weiter. Im strömenden Regen konnte man kaum die Hand vor Augen sehen. Die Umgebung erinnerte an ein kreisförmiges Labyrinth, fast wie bei Borges. Gekrümmte, mit Ziegeln und rötlichem Putz verkleidete Mauern öffneten sich zu Eingängen, Gassen und Umwegen, schienen jedoch jeden Eindringling wieder nach außen zu katapultieren, als wollten sie ein geheimnisvolles Zentrum schützen.
Bei diesem Labyrinth jedoch handelte es sich um ein Wohnviertel namens Le Clos-Saint-Lazare, einen typischen sozialen Brennpunkt in einer der Pariser Vorstädte.
»Wir dürften überhaupt nicht hier sein«, murmelte Fifi. »Wenn das unsere Kollegen wüssten …«
»Schnauze!«
Passan hatte Fifi gebeten, dunkle Klamotten anzuziehen, um möglichst wenig Aufmerksamkeit zu erregen. Und was machte dieser Spinner? Er war in einem Hawaiihemd und knallroten Shorts angerückt. Passan verkniff sich die Frage, womit Fifi sich vor der Arbeit zugedröhnt hatte. Wodka? Speed? Koks? Wahrscheinlich alle drei.
Mit einer Hand am Lenkrad tastete Passan auf der Rückbank herum und griff nach einer kugelsicheren Weste, wie er auch selbst eine trug.
»Zieh das an.«
»Brauche ich nicht.«
»Zieh das Ding an! Mit deinem Hemd siehst du aus wie eine Tunte bei der Gay Pride.«
Philippe Delluc, der von allen nur Fifi genannt wurde, fügte sich widerstrebend. Passan beobachtete ihn von der Seite. Wasserstoffblonde Mähne, Aknenarben und gepiercte Lippen. Der offene Hemdkragen gestattete einen Blick auf das Maul eines wilden Drachen, der Fifis linken Arm und Schulter zu zerfleischen schien. Nach mittlerweile drei Jahren gemeinsamer Arbeit fragte sich Passan noch immer, wie der Junge die achtzehnmonatige Ausbildung an der Polizeischule, die Motivationsinterviews und die medizinischen Untersuchungen überstanden hatte.
Aber das Resultat war immerhin ein Bulle, der mit einer Pistole ein Ziel aus mehr als fünfzig Metern Entfernung treffen konnte, und zwar sowohl mit der rechten als auch mit der linken Hand. Auch nach mehreren durchgemachten Nächten zeigte er keine Ausfallerscheinungen. Mit kaum dreißig Jahren hatte der junge Kommissar schon mindestens fünf Schießereien überstanden, ohne einen Rückzieher zu machen. Fifi war mit Abstand der beste Teamkollege, den Passan je gehabt hatte.
»Wie war noch mal die Adresse?«
Fifi riss das Post-it ab, das am Armaturenbrett klebte.
»134, Rue Sadi-Carnot.«
Laut Navi mussten sie sich ganz in der Nähe befinden, lasen aber ständig andere Namen auf den Straßenschildern: Rue Nelson Mandela, Square Molière, Avenue Pablo Picasso. Alle paar Meter holperte der Wagen über Straßenschwellen, was Passan allmählich unendlich nervte.
Im Vorfeld hatte er sich die Zeit genommen, einen Plan von Le-Clos-Saint-Lazare auszudrucken, einem der größten Wohnviertel im Departement Seine-Saint-Denis, wo fast zehntausend Menschen in Sozialwohnungen hausen. Der Hingucker des Viertels sind kreisbogenförmig gebaute Wohnblöcke, die sich in Schlangenlinien zwischen ein paar mickrigen Bäumen hindurchwinden. Um die Häuserschlange herum türmen sich fast feierlich ein paar rechteckige Klötze, die wie Wächter auf ihrem Posten zu stehen scheinen.
»Scheiße«, presste Fifi zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
Hundert Meter vor ihnen droschen ein paar Schwarze auf einen am Boden liegenden Mann ein. Passan bremste ab, nahm den Gang heraus und ließ den Wagen auf die Gruppe zurollen. Die Schlägerei war in vollem Gange. Das Opfer versuchte verzweifelt, sein Gesicht zu schützen.
Prügel hagelten aus allen Richtungen auf den Mann ein. Einer der Angreifer mit abgeschnittenen Jeans und einer Kangol-Kappe auf dem Kopf trat ihm so heftig in den Mund, dass dem Opfer ein paar Zähne ausfielen.
»Ja, immer schön an
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