0615 - Die Satans-Vision
Sie zeigten all den Glimmer und Glitzer, den künstlichen Schnee, die ebenfalls künstlichen Tannenbäume, die pausbäckigen Posaunenengel, die an dünnen Fäden hängend durch die Luft schwebten und hinabschauten auf die Krippen mit ihren Figuren.
Schmuck, Spielzeug, perfekt gestylte Pakete. Weihnachten auch in den Parfümerien, die ihre Schaufenster mit einer blendenden Fülle geschmückt hatten.
In einer Auslage stand ein besonders großer Engel. Auf einer Erhöhung hatte er seinen Platz gefunden, deshalb starrte er von oben herab auf die vorbeigehenden Passanten.
Auch Anne Geron sah ihn. Sie blieb stehen und mußte sich dabei etwas zur Seite drehen, um den Druck der folgenden Käufer abzulenken. Sie konnte selbst nicht sagen, aus welchem Grund sie nicht mehr weiterging. Es konnte an dem Engel liegen, dessen Anblick sie einfach faszinierte. Er besaß ein wunderschönes Gesicht, trug ein langes, schneeweißes Gewand und preßte das Mundstück einer goldenen Trompete gegen seine Lippen.
Um ihn herum verteilten sich schwebend die Parfümflakons und all die toll gestylten Fläschchen und Töpfe, die mit Kosmetika aller Art gefüllt waren.
Natürlich wollte man verdienen, natürlich wollte man locken, aber nicht so, wie es Anne plötzlich sah.
Der Engel verwandelte sich!
Auf einmal sah sie die gräßliche Gestalt, überall verteilte sich Blut.
Aus dem Engel war eine dämonische Gestalt geworden, aus seiner Trompete ein mörderisches Schwert.
Er hieb um sich, zerschlug die ausgestellten Gegenstände, aus den Blutfontänen spritzten, und auch sein Gesicht hatte sich verändert.
Anne Geron, die alles mitbekam und schreckensstarr vor der Schaufensterscheibe stand, wollte ihren eigenen Augen nicht trauen.
Die Gestalt besaß ihr Gesicht!
Zwischen all dem Grauen, dem Blut und der Vernichtung wirkte es wie ein kostbares Gemälde, so rein, so klar und gleichzeitig so unendlich weit von dem Grauen entfernt.
Anne Geron merkte nicht, daß sie gegen die Schaufensterscheibe fiel. Sie wollte sich daran festhalten, schaffte es aber nicht einmal, sich abzustützen, weil sie einfach die Kraft nicht besaß und allmählich an der Scheibe entlang nach unten glitt.
Sie fiel…
Anne sank zusammen, die Welt war für sie zu einem brausenden Orkan geworden, der alles andere hinwegschwemmte. Aus den Tiefen dieses Orkans drang etwas hoch, es war wie eine Botschaft, die anschließend zu zahlreichen Stimmen zerfaserte, und Anne hörte die erschreckten Fragen der Menschen, die Zeuge ihres Zusammenbruchs gewesen waren.
»Geht es Ihnen nicht gut, Mademoiselle?«
»Der Streß ist vor dem Fest am schlimmsten.«
»Ja, man sollte es abschaffen, ganz abschaffen«, meinte ein anderer. »Es hat sowieso keinen Sinn.«
»Hören Sie doch auf, Monsieur. Natürlich hat das Fest Sinn. Nur was die Menschen daraus gemacht haben, ist sinnlos geworden.«
»Das meinte ich ja.«
»Dann sagen Sie es demnächst deutlicher…«
Für Anne Geron waren die Worte zwar zu verstehen, aber die Sätze selbst rauschten wie Bachwasser an ihr vorbei. Sie nahm auch nicht den Sinn in sich auf und kam sich hin und wieder vor wie auf einem Floß sitzend, das sie einfach wegschwemmte.
»Sollen wir einen Arzt rufen, Mademoiselle?« Die Stimme der Frau klang besorgt.
Anne runzelte die Stirn. »Einen Arzt?« wiederholte sie flüsternd.
»Weshalb einen Arzt?«
»Sie sind zusammengebrochen.«
»Nein, bitte, mir wurde nur schwindlig. All das Blut, das ich sah. Der Engel schlug ja zu. Er hatte ein Schwert, er war schrecklich, veränderte sich zu einem Teufel…«
»Mademoiselle!« Die Stimme der Helferin klang etwas pikiert.
»Was jeden Sie denn da?«
»Ich… ich?«
»Ja – Sie!«
Anne war noch immer durcheinander. Sie schaute erst jetzt hoch und stellte selbst fest, daß sie auf dem Boden lag, andere Passanten ihren Gang unterbrochen und sie umringt hatten. Sie standen in einem Halbkreis vor ihr und glotzten sie neugierig an.
Die Frau, die gesprochen hatte, sah aus, als ob ihr die Worte leid getan hätten. Kopfschüttelnd ging sie, bevor Anne sich bei ihr bedanken konnte.
Jemand streckte ihr die Hand entgegen, als er sah, daß Anne sich erheben wollte. Es war ein noch junger Mann mit sehr ernsten Augen, aber einem feinen Lächeln um die Mundwinkel.
»Merci«, flüsterte die junge Frau, »merci beaucoup.«
»Kann ich Ihnen sonst noch helfen?«
Anne strich ihr dunkles Haar zurück. »Nein, danke, vielen Dank, es wird schon gehen.«
»Sie sehen noch immer
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