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Meisternovellen

Meisternovellen

Titel: Meisternovellen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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ihm etwas zu – er hob den Kopf nicht. Eintretende betrachteten ihn neugierig, er blieb, den Blick auf den Tisch gebannt, mit krummem Rücken sitzen, schamhaft und scheu. Und als mittags zur Essenszeit ein Schwarm Leute den Raum mit Lachen füllte, Hunderte Worte um ihn schwirrten, die er nicht verstand, und er, seiner Fremdheit entsetzlich gewahr, taub und stumm inmitten einer allgemeinen Bewegtheit saß, zitterten ihm die Hände so sehr, daß er kaum den Löffel aus der Suppe heben konnte. Plötzlich lief eine dicke Träne die Wange herunter und tropfte schwer auf den Tisch. Scheu sah er sich um. Die andern hatten sie bemerkt und schwiegen mit einemmal. Und er schämte sich: immer tiefer beugte sich sein schwerer, struppiger Kopf gegen das schwarze Holz.
    Bis gegen Abend blieb er so sitzen. Menschen gingen und kamen, er fühlte sie nicht und sie nicht mehr ihn: ein Stück Schatten, saß er im Schatten des Ofens, die Hände schwer auf den Tisch gestützt. Alle vergaßen ihn, und keiner merkte darauf, daß er sich in der Dämmerung plötzlich erhob und, dumpf wie ein Tier, den Weg zum Hotel hinaufschritt. Eine Stunde und zwei stand er dort vor der Tür, die Mütze devot in der Hand, ohne jemanden mit dem Blick anzurühren: endlich fiel diese seltsame Gestalt, die starr und schwarz wie ein Baumstrunk vor dem lichtfunkelnden Eingang des Hotels im Boden wurzelte, einem der Laufburschen auf, und er holte den Manager. Wieder stieg eine kleine Helligkeit in dem verdüsterten Gesicht auf, als seine Sprache ihn grüßte.
    »Was willst du, Boris?« fragte der Manager gütig.
    »Ihr wollt verzeihen«, stammelte der Flüchtling, »ich wollte nur wissen … ob ich nach Hause darf.«
    »Gewiß, Boris, du darfst nach Hause«, lächelte der Gefragte.
    »Morgen schon?«
    Nun ward auch der andere ernst. Das Lächeln verflog auf seinem Gesicht, so flehentlich waren die Worte gesagt.
    »Nein, Boris … jetzt noch nicht. Bis der Krieg vorbei ist.«
    »Und wann? Wann ist der Krieg vorbei?«
    »Das weiß Gott. Wir Menschen wissen es nicht.«
    »Und früher? Kann ich nicht früher gehen?«
    »Nein, Boris.«
    »Ist es so weit?«
    »Ja.«
    »Viele Tage noch?«
    »Viele Tage.«
    »Ich werde doch gehen, Herr! Ich bin stark. Ich werde nicht müde.«
    »Aber du kannst nicht, Boris. Es ist doch eine Grenze dazwischen.«
    »Eine Grenze?« Er blickte stumpf. Das Wort war ihm fremd. Dann sagte er wieder mit seiner merkwürdigen Hartnäckigkeit: »Ich werde hinüberschwimmen.«
    Der Manager lächelte beinahe. Aber es tat ihm doch weh, und er erläuterte sanft: »Nein, Boris, das geht nicht. Eine Grenze, das ist ein fremdes Land. Die Menschen lassen dich nicht durch.«
    »Aber ich tue ihnen doch nichts! Ich habe mein Gewehr weggeworfen. Warum sollen sie mich nicht zu meiner Frau lassen, wenn ich sie bitte um Christi willen?«
    Dem Manager wurde immer ernster zumute. Bitterkeit stieg in ihm auf. »Nein«, sagte er, »sie werden dich nicht hinüberlassen, Boris. Die Menschen hören jetzt nicht mehr auf Christi Wort.«
    »Aber was soll ich tun, Herr? Ich kann doch hier nicht bleiben! Die Menschen verstehen mich hier nicht, und ich verstehe sie nicht.«
    »Du wirst es schon lernen, Boris.«
    »Nein, Herr«, tief bog der Russe den Kopf, »ich kann nichts lernen. Ich kann nur auf dem Feld arbeiten, sonst kann ich nichts. Was soll ich hier tun? Ich will nach Hause! Zeige mir den Weg!«
    »Es gibt jetzt keinen Weg, Boris.«
    »Aber, Herr, sie können mir doch nicht verbieten, zu meiner Frau heimzukehren und zu meinen Kindern! Ich bin doch nicht mehr Soldat!«
    »Sie können es, Boris.«
    »Und der Zar?« Er fragte es ganz plötzlich, zitternd vor Erwartung und Ehrfurcht.
    »Es gibt keinen Zaren mehr, Boris. Die Menschen haben ihn abgesetzt.«
    »Es gibt keinen Zaren mehr?« Dumpf starrte er den andern an. Ein letztes Licht erlosch in seinen Blicken, dann sagte er ganz müde: »Ich kann also nicht nach Hause?«
    »Jetzt noch nicht. Du mußt warten, Boris.«
    »Lange?«
    »Ich weiß nicht.«
    Immer düsterer wurde das Gesicht im Dunkel: »Ich habe schon so lange gewartet! Ich kann nicht mehr warten. Zeig mir den Weg! Ich will es versuchen!«
    »Es gibt keinen Weg, Boris. An der Grenze nehmen sie dich fest. Bleib hier, wir werden dir Arbeit finden!«
    »Die Menschen verstehen mich hier nicht, und ich verstehe sie nicht«, wiederholte er hartnäckig. »Ich kann hier nicht leben! Hilf mir, Herr!«
    »Ich kann nicht, Boris.«
    »Hilf mir um Christi willen, Herr!

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