Gluehend
1. Ein Dolchstoß
So habe ich ihn noch nie gesehen. Zum ersten Mal seit acht Monaten scheint Gabriel vollkommen die Kontrolle verloren zu haben.
[Entweder sie oder ich. Du wirst immer mir gehören. Eleanor.]
Diese SMS des geheimnisvollen Unbekannten hat ihn fertiggemacht. Er versucht, mir gegenüber die Fassung zu bewahren und Selbstsicherheit auszustrahlen, vermutlich, um mich nicht zu beunruhigen, doch ich merke schon, wenn ich ihn ansehe, wie ihm sein Herz bis zum Hals klopft. Hinter diesem gottgleichen Gesicht und der imposanten Statur verbirgt sich ein verletzter, gequälter Mann. Ich weiß, dass wir uns beide im gleichen Moment die gleiche Frage stellen …
Wer könnte etwas so Grausames fertigbringen? Wer könnte sich Eleanors Namen, den Namen einer Frau, die seit 13 Jahren tot ist, aneignen, um uns aus der Fassung zu bringen und uns zu zerstören?
In einiger Entfernung geht die Feier weiter, doch die prächtige Hochzeit von Céleste und Barthélemy scheint Lichtjahre von uns entfernt stattzufinden. Freudenschreie dringen vom Festzelt, in dem sich die Gäste befinden, zu uns, doch mein beunruhigter Geliebter und ich sehen einander schweigend an. Es ist eine bedeutungsschwangere, ohrenbetäubende Stille, und ich wage es nicht, sie zu stören. Gabriel sieht mich mit zusammengekniffenen Augen misstrauisch an, als warte er darauf, dass ich ihm all meine schlimmsten Sünden beichte. Als mein Milliardär schließlich das Wort ergreift, ist seine Stimme voll von Feindseligkeit und Vorwürfen.
„Du wusstest es, Amandine. Du wusstest es und hast mir schon wieder nichts gesagt.“
„Was wusste ich? Woran genau gibst du mir jetzt die Schuld?“
„Du hast mir die Existenz eines zweiten geheimnisvollen Unbekannten verschwiegen. Spiel nicht die Unschuldige. Spiel mit mir keine Spielchen. Lüg mich nicht an. Ich habe es in deinem Gesicht gesehen. Du wusstest, dass es schon wieder jemand auf uns abgesehen hat. Auf mich abgesehen hat …“
„Ich wusste nicht, wie ich es dir sagen soll. Ich habe es versucht, aber es war nie der richtige Moment dazu …“
„Verdammt, Amandine, für so etwas gibt es keinen richtigen oder falschen Moment! Du hast dein Wort nicht gehalten. Du hast schon wieder beschlossen, alles für dich zu behalten! Hast du noch immer nicht verstanden, dass ich über die nötigen Mittel verfüge, um diesen geheimnisvollen Unbekannten aufzuhalten, um ihn, wer auch immer er ist, davon abzuhalten, uns wehzutun? Ich bin ein mächtiger Mann, Amandine. Dieser mysteriöse Briefeschreiber kann mir nichts anhaben!“
„Wie willst du das tun? Wir wissen ja nicht einmal, wer dahinter steckt!“
„Ich werde Profis darauf ansetzen. Ich werde ihn finden und vernichten! Uns zu bedrohen, ist eine Sache, aber sich als Eleanor auszugeben, das ist … einfach abscheulich. Was, wenn er Virgile angreift? Hast du daran schon gedacht? Nein, Fräulein Baumann hat es wieder einmal vorgezogen, sich taub zu stellen und darauf zu warten, dass es vorbei geht. Wir müssen handeln, Amandine, wir müssen reagieren, bevor er zu weit geht!“
„Sprich nicht mit mir, als wäre ich ein Kind, Gabriel! Ich habe getan, was ich konnte. Ich hatte so viel gleichzeitig um die Ohren. Ich war vollkommen überfordert …“
„Ein Grund mehr, mich um Hilfe zu bitten! Du und deine Unabhängigkeit, deine Freiheit … Der Deal war klar: Was auch immer geschieht, du musst mir die Wahrheit sagen, die ganze Wahrheit. Und was ich sage, meine ich auch so, Amandine. Wenn du mir nicht vertraust, kann ich nichts für uns tun. Willst du unsere Beziehung aufs Spiel setzen?“
„Ganz im Gegenteil! Ich wollte dich schützen, uns schützen!“
„Das ist meine Aufgabe! Du hast mich angelogen. Jetzt muss ich ausbügeln, was du falsch gemacht hast. Es ist wichtig, dass du mir alles erzählst und mir nicht das kleinste Detail verschweigst. Ich will alles wissen. Und ich rate dir, mich nie wieder anzulügen, sonst fühle ich mich gezwungen, dich zu bestrafen …“
Und was war das jetzt? Ein nettes, freundliches Gespräch?
Als mein Geliebter mich umarmt und an sich drückt, wird seine Stimme wieder sanfter. Ich weiß nicht, ob ich mit meinen Fäusten gegen seine Brust schlagen oder in seine Arme sinken und vor Erleichterung weinen soll. Ich habe ihn enttäuscht, doch Gabriel lässt mich nicht im Stich. Mein wilder und einflussreicher Mann wird den geheimnisvollen Unbekannten aufspüren und ihn zunichtemachen – und diesmal endgültig!
Seit
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