Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Staub

Staub

Titel: Staub Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
Vom Netzwerk:
1
    Die gelben Bulldozer und Bagger legen einen alten Gebäudekomplex, der mehr Tote gesehen hat als die meisten Schlachtfelder der Moderne, in Schutt und Asche. Kay Scarpetta bremst ihren gemieteten Geländewagen ab, bis er fast steht. Erschüttert betrachtet sie das Werk der Zerstörung und sieht zu, wie die senffarbenen Baumaschinen ihre Vergangenheit zu Staub verfallen lassen.
    Jemand hätte es mir sagen sollen, sagt sie.
    Eigentlich wollte sie an diesem grauen Dezembermorgen nur ganz unschuldig in Erinnerungen schwelgen und an ihrer alten Arbeitsstätte vorbeifahren. Sie ahnt nicht, dass das Haus gerade abgerissen wird. Das hätte ihr wirklich jemand erzählen können. Einfach nur der Höflichkeit halber hätte man es erwähnen müssen: »Ach, übrigens, das Gebäude, in dem du gearbeitet hast, als du noch jung und voller Hoffnungen und Träume warst und an die Liebe geglaubt hast, das alte Gebäude, das du immer noch vermisst und für das du so viel empfindest, wird gerade abgerissen.«
    Ein Bulldozer stürmt mit angriffslustig gereckter Schaufel voran. Seine lautstarke, maschinengetriebene Zerstörungswut scheint eine Warnung, ein Alarmsignal zu sein. Ich hätte besser hinhören sollen, denkt sie, während sie den rissigen, zerborstenen Beton betrachtet. Der Fassade ihrer alten Wirkungsstätte fehlt schon das halbe Gesicht. Sie wäre gut beraten gewesen, auf ihre Gefühle zu hören, als man sie gebeten hat, nach Richmond zurückzukehren.
    »Ich habe einen Fall, bei dem Sie mir vielleicht helfen können«, meinte Dr. Joel Marcus, der derzeitige Chefpathologe des Staates Virginia, der Mann also, der Scarpettas Platz eingenommen hat. Erst gestern Nachmittag hat er sie angerufen.
    »Natürlich, Dr. Marcus«, sprach sie ins Telefon, während sie in der Küche ihres Hauses in Südflorida auf und ab ging. »Was kann ich für Sie tun?«
    »Eine Vierzehnjährige wurde tot in ihrem Bett aufgefunden. Das war vor zwei Wochen um die Mittagszeit. Sie war krank, hatte die Grippe.«
    Scarpetta hätte ihn fragen sollen, warum er sie angerufen hat. Warum ausgerechnet sie? Aber sie hat ihre Gefühle ignoriert. »Also war sie nicht in der Schule?«, erkundigte sie sich.
    »Genau.«
    »War sie allein?« Den Hörer unters Kinn geklemmt, rührte sie in einer Mischung aus Bourbon, Honig und Olivenöl herum.
    »Ja.«
    »Wer hat sie gefunden, und was ist die Todesursache?« Sie goss die Marinade in einen Gefrierbeutel aus Plastik, in dem sich ein mageres Sirloin-Steak befand.
    »Ihre Mutter. Die Todesursache steht noch nicht fest«, erwiderte er. »Nichts Verdächtiges, nur dass sie, wenn man danach geht, was wir gefunden oder besser nicht gefunden haben, eigentlich noch leben müsste.«
    Scarpetta legte den Plastikbeutel mit dem Fleisch und der Marinade in den Kühlschrank, zog die Kartoffelschublade auf und schloss sie wieder, weil sie es sich anders überlegt und beschlossen hatte, keine Kartoffeln zu kochen, sondern lieber Vollkornbrot zu backen. Sie konnte nicht still stehen, geschweige denn sitzen, war nervös und tat alles, um sich das nicht anmerken zu lassen. Warum rief er ausgerechnet sie an? Sie hätte ihn danach fragen sollen.
    »Wer wohnt noch in ihrem Haushalt?«, erkundigte sich Scarpetta.
    »Ich würde die Einzelheiten lieber persönlich mit Ihnen besprechen«, erwiderte Dr. Marcus. »Der Fall ist recht heikel.«
    Beinahe hätte Scarpetta erwidert, dass sie gerade im Begriff sei, zu einem zweiwöchigen Urlaub nach Aspen in Colorado aufzubrechen, aber sie bekam die Worte nicht heraus, weil sie nicht mehr stimmten. Obwohl sie es schon seit Monaten geplant hatte, würde sie nicht nach Aspen fahren. Die Reise war abgesagt. Sie brachte es nicht über sich zu lügen, verschanzte sich stattdessen hinter ihrem Beruf und flüchtete sich in die Ausrede, sie könne nicht nach Richmond kommen, weil sie gerade mitten in einem schwierigen Fall stecke, einem komplizierten Fall, Tod durch Erhängen, die Familie des Toten weigere sich, an Selbstmord zu glauben.
    »Was ist bei Erhängen denn das Problem?«, fragte Dr. Marcus. »Rassistischer Hintergrund?«
    »Er ist auf einen Baum gestiegen, hat sich ein Seil um den Hals gelegt und die Hände mit Handschellen auf dem Rücken gefesselt, für den Fall, dass er es sich doch noch anders überlegen könnte«, entgegnete sie und öffnete eine Schranktür in ihrer hellen, freundlich wirkenden Küche. »Als er vom Ast gestiegen und gefallen ist, ist sein zweiter Halswirbel gebrochen. Das Seil hat

Weitere Kostenlose Bücher